Dietmar Bartsch: Ich verneige mich vor den Opfern

09.06.2021 – Vor 80 Jahren überfiel Nazi-Deutschland die Sowjetunion. Eines der größten Verbrechen der Geschichte ging von deutschem Boden aus. Der Krieg gegen die Sowjetunion wurde als Angriffs- und Vernichtungskrieg konzipiert und geführt, der alle bis dahin geltenden Zivilisationsregeln außer Kraft setzte. Die Völker der Sowjetunion kostete der Vernichtungskrieg 27 Millionen Menschenleben. Ich verneige mich vor den Opfern. Es beschämt mich, dass Bundestag und Bundesregierung des 80. Jahrestages nicht offiziell gedenken.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor fast 80 Jahren überfiel Nazideutschland die Sowjetunion. Eines der größten Verbrechen der Geschichte ging von deutschem Boden aus. Der Krieg gegen die Sowjetunion wurde als Angriffs- und Vernichtungskrieg konzipiert und geführt, der alle bis dahin geltenden Zivilisationsregeln suspendierte. Der Krieg wurde nicht als Krieg einer Armee gegen eine andere geführt, sondern als Krieg gegen eine Bevölkerung, die – wie die Juden – ausgerottet bzw. dezimiert und versklavt werden sollte. Die Völker der Sowjetunion kostete dieser Vernichtungskrieg 27 Millionen Menschenleben: Russen, Weißrussen, Ukrainer, Balten, Kaukasier, Juden, Soldaten, Zivilisten, Kriegsgefangene, Männer, Frauen, Kinder, Angehörige Dutzender Nationalitäten. Fast jede Familie der Sowjetunion hatte Opfer zu beklagen. Meine Fraktion, ich hoffe, wir alle, wollen dem würdevoll gedenken, und auch ich verneige mich vor den Opfern.

Meine Damen und Herren, im Januar 2014 sprach der damals 95-jährige russische Schriftsteller Daniil Granin hier an diesem Platz im Deutschen Bundestag. Er sagte, man dürfe nicht vergessen und man müsse doch vergeben können, Hass führe in die Sackgasse. Das sagte der Verteidiger von Leningrad. Heiko Maas, Graf von Lambsdorff haben darauf hingewiesen, was das an diesem Pult bedeutet. Granin sagte, es sei ihm eine große Ehre, hier zu sprechen.

Auch eingedenk dieser Worte beschämt es mich, wie der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung mit diesem Jahrestag umgehen. Ein offizielles Gedenken gibt es weder hier noch da, und das im 80. Jahr des Überfalls. Die dürftigen Begründungen und Verweigerungen sind in den Antworten auf die Anfragen meiner Fraktion nachzulesen. Ich finde, das ist ein Zeugnis von Geschichtsvergessenheit.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Dr. Alice Weidel [AfD])

Ich bin froh, dass der Bundespräsident, Herr Steinmeier, hier anders handelt. Heute gedenken wir eines Tages größter deutscher Schuld. Es geht um Terror, der in dieser Stadt erdacht und inszeniert worden ist. Deshalb sind Zeichen der Demut und der Scham so notwendig.

Meine Damen und Herren, ich habe ein paar Jahre in der Sowjetunion gelebt, ich habe dort eine Aspirantur gemacht. Ich hatte eine Russischlehrerin, die mir sagte, dass ihrer Großmutter, als sie ihr erzählte, dass sie jetzt auch einen Deutschen unterrichtet, die Tränen gekommen sind, weil ihr Bruder, der Bruder der Großmutter, von Deutschen umgebracht worden ist. Sie konnte gar nicht verstehen, warum sie einen Deutschen unterrichtet. Ich habe mit der Lehrerin lange geredet und habe ihr natürlich auch versichert: Nie wieder! – Kurz vor meiner Verteidigung, das war im Mai 1990, gab es in den ostdeutschen Ländern (neu) riesige Nazischmierereien. Ihre Frage war damals im Mai 1990: Glaubst du, dass das wieder passieren kann? – Natürlich habe ich das verneint und gesagt: Das ist unmöglich! Nie wieder deutsche Soldaten.

Meine Damen und Herren, was soll ich meiner damaligen Lehrerin eigentlich sagen, wenn heute die NATO-Staaten ihr größtes Manöver seit dem Ende des Kalten Krieges ausgerechnet im Osten Europas abhalten und die Bundeswehr dabei ist? Ich finde, das ist beschämend!

(Beifall bei der LINKEN)

Wir sollten Lernfähigkeit zeigen gegenüber allen ehemaligen Republiken der Sowjetunion. Ich appelliere an die Bundesregierung: Lieber Heiko Maas, kappen Sie nicht die Drähte zu allen ehemaligen Sowjetrepubliken, auch nicht nach Russland, nicht die Gesprächsfäden, nicht die Handelswege, nicht die Pipelines. Fördern Sie die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen, den Jugendaustausch, die Städtepartnerschaften, und – heute wichtiger denn je – arbeiten Sie an einer neuen Ära der Abrüstung!

(Beifall bei der LINKEN)

Wer es heutzutage gering schätzt oder ignoriert, dass die Rote Armee in der Anti-Hitler-Koalition den größten und opferreichsten Beitrag erbracht hat, wer ignoriert, dass die Politik Gorbatschows das Tor zu Gewaltverzicht und Abrüstung öffnete, den Fall des Eisernen Vorhangs und die Deutsche Einheit überhaupt erst ermöglichte, hat aus der Geschichte nichts gelernt, der handelt arrogant und ohne Empathie. Wer das ignoriert, brüskiert zahlreiche Staaten und Völker. Das heißt übrigens nicht „Sprachlosigkeit“, das heißt es ausdrücklich nicht.

Wir gedenken heute auch David Dushman, der in der Nacht auf Samstag in seiner Wahlheimat München mit 98 Jahren gestorben ist und der gerade in diesen Minuten verabschiedet wird. Er war ein Veteran der Roten Armee und der letzte noch lebende Befreier von Auschwitz. Unermüdlich hat er als Zeitzeuge bis zuletzt von den Schrecken des Krieges und dem Terror des Faschismus berichtet. „Nicht die Deutschen sind schuld, der Faschismus muss zerstört werden“, sagte dieser große Held, vor dem wir uns auch in Dankbarkeit verneigen.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, wir leben in einer vermeintlich stabilen Demokratie. Doch das vermeintlich Sichere ist so sicher nicht. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit müssen täglich erkämpft und verteidigt werden. Auch 75 Jahre nach dem Ende des faschistischen Raub- und Vernichtungskriegs haben wir keinen Grund, Bertold Brechts Warnung in den Wind zu schlagen: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“ Gar nicht selten geht Verharmlosung mit Verherrlichung einher; wir erleben das, leider auch manchmal in diesem Haus. Brechts Stück, übrigens auch im Jahre 1941 geschrieben, trägt den Titel „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“. Deshalb sehe ich darin Zuversicht und zugleich Auftrag für uns alle. Wir alle sind gefordert. Ja, es gibt keine Politik ohne Geschichte!

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)