Dietmar Bartsch: Viele Fehler, null Selbstkritik!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Frau Bundeskanzlerin, es mag Sie nerven, aber ich will ausdrücklich festhalten: Für Die Linke bleibt es inakzeptabel, dass wir im Bundestag erst wieder nach einer Ministerpräsidentenrunde debattieren und nicht vorher.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der AfD und der FDP)

In der Krise zeigt sich die Stärke der Demokratie und ihrer Institutionen. Der Bundestag gehört dazu.

Frau Bundeskanzlerin, Sie sind der Auffassung, dass im Großen und Ganzen nichts schiefgelaufen ist. Herr Brinkhaus hat sinngemäß eben den Satz gesagt: Selbst bei den Toten liegen wir gut.

(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Ich habe es relativiert!)

Den würde ich noch einmal überprüfen.

Ich will festhalten, dass viele Menschen in unserem Land es anders sehen, wenn Sie meinen, nichts sei schiefgelaufen. Sie haben auch heute wieder null Selbstkritik geäußert, aber vergleichsweise viel Selbstgefälligkeit. Auch einer Bundeskanzlerin steht ein gewisses Maß, ein Mindestmaß an Selbstkritik gut zu Gesicht, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der LINKEN)

Frau Bundeskanzlerin, Sie haben auf Vorschläge aus diesem Haus – von uns, von den Grünen, von der FDP – wenig gehört und im Sommer und im Herbst das Land nicht auf den Coronawinter entsprechend vorbereitet. Ich will nur ein Beispiel nennen: Im Herbst ist hier über ein Schutzkonzept für Heime gesprochen worden; auch viele Experten haben das eingefordert. Und täglich sterben weiter viele Menschen in Alten- und Pflegeheimen, weil sie nicht geschützt werden und der Impfstoff fehlt. In Hessen zum Beispiel kamen im Januar 73 Prozent derjenigen, die an Corona verstorben sind, aus Alten- und Pflegeheimen. Und Sie sagen, da ist nichts schiefgelaufen? Das Sterben in den Heimen ist vielleicht das dunkelste Kapitel der letzten Jahrzehnte. Dazu gab es übrigens nie einen Gipfel. Nicht dass wir als Opposition das alles besser gemacht hätten, darum geht es überhaupt nicht; aber diese Papstattitüde der Unfehlbarkeit ist in dieser Situation unangebracht, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der LINKEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb: In einer historischen Ausnahmesituation, wo das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger, über das wir alle sprechen, das höchste Gut ist, sollten Fehler zugegeben werden und nicht selbstgerecht vom Tisch gewischt werden. In den letzten Monaten ist vieles schiefgelaufen. Vom Pandemieweltmeister im Frühjahr sind wir abgestiegen in den Impfkeller Europas. Wir haben seit Wochen leere Impfzentren, Millionen verzweifelte Bürger, die stundenlang in Warteschleifen stecken. Und Sie sagen, es ist nichts schiefgelaufen? Beim Impfen stehen wir hinter Rumänien, hinter Griechenland, hinter der Slowakei. Wir sind selbst in der EU weit abgeschlagen.

Frau Bundeskanzlerin, Deutschland hatte im vergangenen Jahr von Juli bis Dezember die Ratspräsidentschaft in der EU. Natürlich ist es richtig, dass europäisch bestellt wurde; das bestreitet doch von uns hier niemand. Aber überaus fraglich ist in der Tat, warum Sie eine frühere Ministerin damit beauftragt haben, die schon einmal an Verträgen gescheitert ist.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Frau von der Leyen nach dem Beraterskandal im Verteidigungsministerium den Ausweg nach Europa zu ermöglichen, war augenscheinlich ein Fehler, Frau Merkel.

(Beifall bei der LINKEN und der AfD)

Aber zurück zu Ihrem Krisenmanagement. In Deutschland wachsen die Unzufriedenheit, Verzweiflung und auch Wut. Das hat sich auch nach gestern nicht geändert, und das wissen Sie. Herr Brinkhaus hat die Länder, wo es nicht funktioniert, genannt. Aber in den USA, in Großbritannien, in Israel, in vielen anderen Ländern wird im Rekordtempo geimpft, und in Deutschland erleben die Menschen aktuell eben ein Impfdebakel. Das ist die Wahrheit.

Sie müssen drei Fragen den Bürgerinnen und Bürgern beantworten.

Erstens. Warum bestellte die EU unter deutscher Ratspräsidentschaft den Impfstoff, den Deutschland mit viel Steuergeldern gefördert hat, vier Monate später als Großbritannien und die USA?

Zweitens. Warum bestellte die EU unter deutscher Ratspräsidentschaft weniger Impfdosen von BioNTech und Moderna, als möglich war? Und warum hat es Deutschland zugelassen, dass beim Preis gefeilscht worden ist? 520 Millionen Impfdosen weniger wurden zunächst bestellt. Andere Staaten haben nicht geknausert, als es um das Leben ihrer Bürgerinnen und Bürger ging.

Drittens. Warum haben sich die EU unter deutscher Ratspräsidentschaft und die Bundesregierung selbst im Jahr 2020 nicht um die Ausweitung der Produktionskapazitäten gekümmert? Der Impfgipfel vergangene Woche war faktisch ein Placebo. Sie haben die Impfstoffentwicklung zu Recht gefördert, aber die Produktion bis heute verschlafen. Großbritannien und die USA agieren vergleichsweise komplett anders.

Nun sagen Sie immer: Das ist der Flaschenhals am Anfang. – Aber das ist nicht der Fall. In den USA werden 1,5 Millionen Menschen täglich geimpft, und es werden täglich noch mehr, die geimpft werden. Die Amerikaner haben eben sehr früh in der Operation Warp Speed 18 Milliarden Dollar in Forschung, Produktion und Impfstoffe investiert. Die EU hat darin nur 3 Milliarden Euro investiert. Was für ein Missverhältnis! Europa hat deutlich mehr Einwohner. Es ist kein Zufall, dass in drei amerikanischen Bundesstaaten inzwischen mehr geimpft worden ist als in ganz Europa. Sie sagen, Herr Brinkhaus, völlig zu Recht: Impfstrategie! – Aber sorgen Sie einmal dafür, dass bei den Hausärzten jetzt die Voraussetzungen geschaffen werden, dass die impfberechtigt sind, damit die zügig agieren können. 20 Millionen impfen die jedes Jahr gegen Grippe. Das muss man aber jetzt vorbereiten, damit das möglich wird.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, ich will eine Bemerkung machen: Die Pandemie ist weltweit, ja. Was ist eigentlich mit dem globalen Süden? Wann soll der impfen? Wir haben eine Sondersituation. Deswegen: Heben Sie die Patente auf! Es muss global produziert und geimpft werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Patentschutz ist eine Impfbremse und ein Mutationstreiber. Corona kann in veränderter Form zurückkommen, das erleben wir gerade.

Meine Damen und Herren, für Kinder, für Jugendliche, für Alleinerziehende wird der Zustand mit jedem Tag unerträglicher. Kinder dürfen aber nicht die Verlierer der Krise sein. Wie viel Erziehungswissenschaftlerinnen und Erziehungswissenschaftler waren eigentlich bei Ihren Beratungen dabei? Heute hören wir von einer Studie aus Hamburg: Ein Drittel der Kinder haben psychische Störungen durch die Pandemie. Es ist nicht nur das Virus, das krank macht; es ist auch der Umgang mit dem Virus, der zunehmend Schäden anrichtet. Die Bürgerinnen und Bürger haben die Infektionszahlen mit viel Selbstdisziplin und Solidarität nach unten gebracht. Ja, dazu gehört immer der Dank etwa an die Ärzte und Pfleger; da kann ich mich Ihnen anschließen. Aber sie haben das auch im Vertrauen auf die Politik gemacht, und das wurde vielfach enttäuscht.

Sie haben heute darauf aufmerksam gemacht, dass Herr Altmaier das gestern schon auf die Seite gebracht hat. Am 10. Februar! Ich meine, die Novemberhilfen sind teilweise noch nicht ausgezahlt – Novemberhilfen! –; wir haben Februar. Das ist ein Skandal. Fragen Sie einmal Unternehmer und Handwerker, wie es denen geht. Da sagt Herr Altmaier auch, er sieht keine Fehler, und schiebt das auf die Länder. Also, wenn er keine Fehler sieht, dann muss er wirklich einmal zum Augenarzt gehen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Bruno Hollnagel [AfD])

Hunderttausende Menschen bangen um ihre Selbstständigkeit und ihre wirtschaftliche Existenz. Warum gibt es kein unbürokratisches Selbstständigengeld, keinen Unternehmerlohn? Den Großen helfen Sie vergleichsweise unkompliziert, wie wir immer wieder sehen, und bei den Kleinen warten Sie monatelang.

Meine Damen und Herren, das Land treibt aktuell sozial weiter auseinander. Familien und Menschen in der Grundsicherung haben Sie nach dem Koalitionsausschuss jetzt 150 Euro gegeben. Ja, das ist richtig; aber, ehrlich gesagt, das ist natürlich viel zu wenig. 12,50 Euro im Monat sind das. Ich will einmal dazusagen: Am selben Tag – am selben Tag! – wird mit Stolz verkündet, dass die Ausgaben für Verteidigung nach NATO-Kriterien bei 53 Milliarden Euro liegen. Was ist denn das für eine Relation? Und da sagen Sie noch „Stolz“. Ich sage: Das ist Wahnsinn. Uns bedrohen keine fremden Armeen, uns bedroht ein Virus und nichts anderes.

(Beifall bei der LINKEN)

Mit Blick darauf, dass der Eigentümer der Supermarktkette Lidl sein Vermögen in der Krise von 22 Milliarden auf 36 Milliarden Dollar gesteigert hat, ist es obszön, wenn wir alle hier sagen: Den Coronahelden müssen wir danken. – Bei denen ist bei den Arbeitsbedingungen, bei den Löhnen viel zu wenig passiert. Andere haben Milliardenzuwächse, und bei denen wird wirklich nur gekleckert.

Nein, meine Damen und Herren, aktuell kommt Deutschland als Ganzes eben nicht gut durch die Krise. Ihre Bilanz ist nicht gut – weder bei der Pandemiebekämpfung noch im sozialen Bereich noch bei den Wirtschaftshilfen. Es muss Schluss sein mit Selbstgerechtigkeit. Wir brauchen Transparenz.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Welches Land in Europa ist denn besser? Ich höre nichts!)

Wir brauchen möglichst eine Planbarkeit – ja, völlig richtig; nicht an Daten, aber an mehreren Werten –, damit Zuversicht in unserem Land steigt. Das ist das dringlichste Gebot: Zuversicht muss wieder wachsen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)