Jürgen Habermas zum Neunzigsten
In den 60ern und 70ern rückte das konservative Feuilleton den Philosophen und Soziologen in die Nähe zur Weltrevolution und zum Linksterrorismus. Seit den 80ern häufen sich die Preisverleihungen, auch staatliche. Dass auch CDU-Politiker ihn würdigen, hätte sich der junge Habermas nicht träumen lassen.
Zeigt das eine „Anpassung“ dieses Denkers an das „System“ oder ist das Ausdruck einer gewachsenen Anerkennung, die auch Konservative ihm nicht mehr versagen wollten? Die Anpassungsthese wird von eher orthodoxen Vertretern der Kritischen Theorie, zu der Habermas sich zählt, lanciert. Es wird ihm vorgeworfen, Marx und Adorno verabschiedet zu haben. Anhänger von Habermas betonen, dass er zentrale Anliegen dieser Denker im Rahmen einer anderen theoretischen Darstellung reformuliert habe. Ich kann hier nicht Partei ergreifen, da müsste ich einfach mehr davon verstehen. Aber ich kann das Wirken des politischen Intellektuellen Habermas beurteilen und würdigen.
Jürgen Habermas hat immer politisch Position bezogen. Bereits in den 50er Jahren beteiligte er sich an der Kampagne „Kampf dem Atomtod“. Zugleich nahm er gegen die Notstandsgesetzgebung Stellung und artikulierte dabei radikaldemokratische Positionen. Dafür zahlte er einen nicht geringen Preis: an eine Habilitation in Frankfurt war nicht mehr zu denken. Habermas war, obwohl von Adorno unterstützt, für Max Horkheimer zu links. Habilitieren musste er sich bei Wolfgang Abendroth mit der Studie „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, inzwischen ein Klassiker der Soziologie.
Abgegeben vom „Positivismusstreit“ taucht der Name Habermas auch in einem anderen Streit auf, dem „Historikerstreit“ der 80er Jahre. Ernst Nolte präsentierte eine irritierende Deutung des Holocaust. Laut Nolte sei der „Rassenmord“ der Nazis eine Reaktion auf den „Klassenmord“ der Bolschewiki gewesen. Das ist zwar keine Leugnung, wohl aber eine Relativierung dieses industriell betriebenen und bürokratisch organisierten Völkermords. Habermas sah sich gezwungen, dagegen energisch einzuschreiten und verteidigte öffentlich eine Geschichtsdeutung, die die Singularität dieses Verbrechens dezidiert heraushob. Zwar konnten sich Habermas und seine Mitstreiter gegen den revisionistischen Trend damals durchsetzen; ob das heute so ausgehen würde, wage ich zu bezweifeln.
Auch im Zuge der Herstellung der deutschen Einheit kritisierte Habermas das Fehlen einer demokratischen Dynamik. Stattdessen registrierte er eine rein verwaltungsmäßige Durchführung dieses Prozesses und bedauerte, dass Verfassungsdebatten unterblieben. Seine Rezeption des Verfassungsentwurfs des Runden Tischs der DDR deutet an, in welche Richtung Habermas hier dachte: Eine Verfassungsdiskussion, die Erfahrungen sozialer Sicherheit ebenso einbringt wie Erfahrungen mit einer stabilen liberalen Demokratie – beides auf Augenhöhe.
Ebenso spürte er ein neues Aufleben nationalistischer Tendenzen. Das machte er an dem Begriff eines „Wohlfahrtschauvinismus“ fest, der den Hintergrund der Asylrechtsverschärfung bilde, die er vehement ablehnte. Ebenso wandte er sich gegen die Ideologie einer „neuen deutschen Normalität“. Nach dem Nationalsozialismus kann es in Deutschland – bezogen auf den Nationalstaat – keine „Normalität“ geben. Habermas Denken richtet sich daher auch an der „postnationalen Konstellation“ aus, also an der Frage, wie demokratische Volkssouveränität unter Bedingungen des Verlusts realer nationalstaatlicher Souveränität hergestellt werden könne.
Damit eng verbunden ist sein Interesse an der Europäischen Union. Eine demokratische Union könnte einen politischen Raumgewinn bieten, um die politische Steuerung kapitalistischer Wirtschaft wieder zu ermöglichen und soziale Gerechtigkeit wieder herzustellen. Kaum ein zweiter hat so deutlich die neoliberale Erstarrung der europäischen Integration auf den Begriff gebracht, kaum ein zweiter hat so vehement die Nötigungspolitik Schäubles gegenüber der griechischen Syriza-Regierung kritisiert. Natürlich sieht Habermas die Gefahr einer zunehmenden Entleerung der Demokratie und eine starke postdemokratische Tendenz am Wirken. Dennoch warnt Habermas vor einem Scheitern der EU, denn die Alternative kann nur reaktionär sein.
Sicher, nicht alles, was Habermas geäußert hat, würde auf meine Zustimmung stoßen. Dass er, als der radikale Flügel der Studentenbewegung anderes tat als Habermas ihm nahegelegt hätte, das böse Wort vom Linksfaschismus gebrauchte, war falsch. Allerdings hat er das später auch bedauert. Ebenso ist das Plädoyer zugunsten des NATO-Einsatzes im Kosovo-Krieg aus meiner Sicht falsch gewesen. Sowohl, weil es sich völkerrechtlich um einen Aggressionskrieg handelte, als auch, weil damit die deutsche Außenpolitik auf ein anderes Gleis gesetzt wurde: Krieg wurde zur Normalität.
Jedoch überwiegt, dass Habermas immer versucht hat, in seinen Stellungnahmen den Geist der Aufklärung sprechen zu lassen, dass folglich auch Kritik möglich bleibt. Fragt man, wie dieser Intellektuelle zum Kapitalismus steht, so bekommt man drei Antworten: Erstens, Habermas sieht sich selbst als demokratischen Sozialisten, zweitens, Habermas hält den Kapitalismus für derzeit nicht überschreitbar, drittens, Habermas hält den Kapitalismus für dringend kritisierbar und kritikwürdig. Er spricht sich für Perspektiven einer politischen Einhegung kapitalistischer Märkte im Interesse eines emanzipierten Lebens aus.
Jürgen Habermas hatte in den letzten Jahrzehnten immer wieder substanzielle Debattenbeiträge geliefert. Ich wünsche ihm neben Gesundheit und Schaffenskraft, dass die Politik nicht mit Gleichgültigkeit auf diesen gewichtigen Denker reagieren möge, wenn er sich zu Wort meldet.