Gemeinsam gegen Hartz IV

Von Dietmar Bartsch, veröffentlicht in der „Berliner Zeitung“, 

In der SPD und bei den Grünen wird seit einigen Tagen intensiver über den Sozialstaat und insbesondere über Hartz IV debattiert. Für die Debatte gibt es handfeste Gründe. Arbeitsplätze entstehen nicht durch Druck auf Arbeitslose, sie entstehen durch Kapitalinvestitionen. Zudem sind die Mittel, die im Haushalt für Maßnahmen eingestellt wurden, um die Vermittelbarkeit von Arbeitslosen zu erhöhen, über Jahre hinweg abgeschmolzen worden. Schließlich glaubte man bei der Einführung von Hartz IV, künftig „Drehtüreffekte“ vermeiden zu können. Die gibt es aber immer noch. Nicht zuletzt: die Kinderarmut hat sich seit Einführung der Agenda 2010 verdoppelt. Wie man es dreht und wendet: Das Hartz-IV-System ist gescheitert und deshalb müssen alle, nicht nur SPD und Grüne, darüber diskutieren.

Im Kern geht es bei dieser Debatte um die Frage, wie es mit unserem Sozialstaat weitergehen soll. Wichtig ist, dass nun über den Kreis der Linken und ihr Umfeld hinaus ein Bewusstsein Raum greift, dass Hartz IV prinzipiell falsch war und dass dringend Alternativen vonnöten sind. Das ist auch als ein Erfolg unserer Partei zu werten, aber kein Grund zur Selbstzufriedenheit, zum Zurücklehnen oder zur Arroganz. Es gibt einen möglichen Korridor, in dem die nötige Offenheit der nominellen Sozialstaatsparteien SPD, Linke und Grüne für eine echte Debatte da zu sein scheint.

Unsere Vorstellungen und Ziele stellen wir nicht zu Disposition. Wo es jedoch Möglichkeiten gibt, das Leben der von Hartz IV Betroffenen zu verbessern, dürfen wir nicht abseits stehen, nur weil wir weitergehende Vorstellungen haben. Das ist mit der Debatte und der anschließenden Einführung des Mindestlohns vergleichbar. Dessen Einführung war ein Erfolg, auch unserer. Dennoch ist der Mindestlohn in seiner jetzigen Form defizitär. Aber das macht uns nicht zu Gegnern des Mindestlohns. Im Gegenteil, wir wollen ihn weiter anpassen und ausbauen.

Es gibt aus meiner Sicht zwei grundsätzliche Erwägungen, die bei der Debatte um Hartz IV eine Rolle spielen sollten. Erstens: Hartz IV ist eine soziale Drohung. Nur durch diese Drohkulisse waren die Ausweitung des Niedriglohnsektors und eine Schwächung der Kampfkraft der Gewerkschaften möglich. Seit der Einführung von Hartz IV stagnierten oder sanken die Reallöhne lange Zeit. Das stärkte den Exportsektor und schwächte die Binnennachfrage. Wie die Einführung des Mindestlohns zeigte, bedeutete eine Anhebung gerade der unteren Einkommen nicht, dass Arbeitsplätze wegbrachen, sondern dass der Binnenmarkt wächst. Hartz IV zu beseitigen, kann eine ähnliche volkswirtschaftliche Wirkung haben. Die Löhne könnten wachsen, das Binnenwachstum kann gestärkt werden. Die zweite Erwägung, die mir wichtig ist, hat etwas mit dem Menschenbild zu tun, das Politik leitet. Massenarbeitslosigkeit ist nicht das Ergebnis von Massenfaulheit, sondern ist in der kapitalistischen Ökonomie begründet. Deshalb darf man Menschen, die durch den Verlust ihrer Arbeitseinkommen schon gestraft sind, nicht noch zusätzlich mit dem Druck bestrafen, den das in großen Teilen willkürliche Sanktionssystem bedeutet.

Aus den von SPD und Grünen in die Debatte eingebrachten Beiträgen könnte sich eine weiterführende Debatte ergeben.

Die Grünen wollen Sanktionen abschaffen, was auch Die Linke will. Die SPD will zumindest den Umfang der Sanktionsmöglichkeiten verkleinern, wobei sie hier sehr vage bleibt. Deutlicher ist hier der DGB.

Während Die Linke die Höhe einer sozialen Grundsicherung konkret benennt, sind die Grünen eher vage, sie benennen aber wichtige Kriterien wie „existenzsichernd“ und klare Berechnungsgrundlagen, sie sind gegen ein gezieltes Kleinrechnen der notwendigen Höhe einer Grundsicherung. Die SPD zeigt sich hier eher bedeckt, spricht sich aber zumindest für die Wiedereinführung der „einmaligen Bedarfe“ aus. Alle drei Parteien fordern grundsätzlich höhere Freibeträge für Vermögen. Sich auf eine gemeinsame Debatte einzulassen, erfordert vor allem zweierlei. Erstens Mut. Den Mut, auch mal neue Wege gehen zu wollen, und den Mut, in den Austausch um das bessere Argument einzutreten. Das sollte nicht in einen gegenseitigen Überbietungswettbewerb münden, dadurch verlieren alle. Und es erfordert zweitens, dass alle beteiligten Parteien über ihren Schatten springen.

Sollten die Fraktionsspitzen von SPD und Grünen meine Einladung zu einem Austausch grundsätzlich annehmen, könnte ich mir einige konkrete Schritte vorstellen, um in der Sache voranzukommen. Dazu gehören neben einer grundsätzlichen Verständigung der Fraktionsvorsitzenden unter dem Dach einer unabhängigen Einrichtung, etwa einer Gewerkschaft, auch die Anhörung externer Experten und Arbeitsgruppen von Fraktionsmitarbeitern.

Ich hoffe sehr, dass es uns gemeinsam gelingt, hier etwas in Gang zu setzen. Profitieren würden die Menschen in unserem Land gleichermaßen wie die beteiligten Parteien.