Plädoyer für die Aufklärung

Dass zwischen verständlicher und vernünftiger Rede ein Gegensatz stecken könnte, der sich zum Widerspruch zu steigern vermag, hat bereits Platon geargwöhnt. In der attischen Demokratie wurde die Rhetorik zu einer stark nachgefragten Kunst. Deshalb gab es auch bald Lehrer, die für Geld Unterweisung in der Kunst der Überzeugung gaben: die Sophisten. Wahrscheinlich waren einige dieser Leute wesentlich besser als ihr schlechter Ruf. Dieser schlechte Ruf wurde ihnen von Platon angehängt.

Platon war der Überzeugung, dass Überzeugungskunst und Suche nach der Wahrheit grundverschiedene Dinge seien. Für ihn hatte Wahrheit den Vorrang vor allem anderen, auch vor Mehrheiten. Hier zeigt sich ein Problem, das mit der Demokratie, also der Wirkung des Mehrheitsprinzips, in die Welt tritt. Mehrheiten können irren! Überredungskunst kann, wenn sie sich für das Wahre nicht interessiert, auch zur Verführung werden. Andererseits liegt hier auch ein demokratiefeindlicher Gedanke nahe. Gibt es dann nicht das Recht, auf die Demokratie verzichten zu dürfen, wenn es um die Wahrheit geht? Diesen Gedanken würden die meisten verneinen, und sei es mit dem Hinweis auf Churchill, dass die Demokratie eine schlechte Herrschaftsform wäre, alle anderen aber noch schlechter. Ich denke, dass Demokratie unverzichtbar ist.

Nichtsdestotrotz bleibt der Gegensatz zwischen Demokratie und Vorrang der Wahrheit interessant. Der Begriff der Wahrheit hat in der Demokratie nur wenig zu suchen. Natürlich würde jemand, der ernsthaft behaupten würde, dass 2+2=5 ist, sich lächerlich machen, auch im Parlament, jedenfalls noch. Entscheidend ist aber, dass der Begriff des Allgemeinwohls, wenn wir ihn demokratisch verstehen, nicht „wissenschaftlich“ bestimmbar, also nicht primär von besonders klugen Experten ermittelt werden kann, sondern Ergebnis politischer Aushandlung zwischen unterschiedlichen Interessen und ihren Trägern ist. Wenn man das „vergisst“, überlässt man die Bestimmung entscheidender Fragen irgendwelchen Expertenkommissionen, und das Parlament darf dann nur noch absegnen. So ist es z.B. bei den Hartz-Gesetzen gelaufen. Und der Koalitionsvertrag der gegenwärtigen Regierung hat sechzehn (!!) eventuelle Vorhaben gleich in Kommissionen ausgelagert.

Der politische Populismus erscheint als Entsprechung zu dieser Entwicklung. Wo das Parlament zur Legitimationsmaschine degradiert wird, macht er sich stark, bläht sich, um die „wahren“ Interessen des Volkes zur Geltung zu bringen. Das ist eine seiner Geschäftsgrundlagen. Interessant daran ist, dass auch er auf Wahrheit bezugnehmen muss und sich zugleich gegen das „Establishment“, also auch Expertenkommissionen, in Stellung bringt. Da die Experten dann offenbar die Wahrheit entstellen müssen, tendiert der Populismus zuweilen zu verschwörungstheoretischen Annahmen.

Es stellen sich zwei Fragen. Erstens: was sind Interessen? Und zweitens: was macht Interessen wahr? Das ist ein Minenfeld, das hier betreten wird. Natürlich, um mit dem Wahrheitsproblem zu beginnen, täuschen sich Beschäftigte nicht, wenn sie glauben, dass höhere Löhne besser für sie wären. Ihr Interesse daran ist also „wahr“. Aber auch Kapitalisten unterliegen keinem Irrtum, wenn sie denken, dass ein Kapitaleinsatz höhere und nicht niedrigere Rendite bringen soll. Auch ihr Interesse daran ist „wahr“. Aber wenn man sagt, alle in der Gesellschaft haben etwas davon, wenn die Kapitalverwertung für die Kapitaleigentümer gut läuft, ist das nicht mehr plausibel. Denn das könnte beispielsweise auch auf Kosten der Löhne gehen. Ideologie zeichnet sich dadurch aus, dass Menschen Überzeugungen ausbilden, die ihren Interessen widersprechen. Wenn also Werktätige glauben, dass alles, was gut für die Kapitalverwertung ist, auch gut für sie sei, dann unterliegen sie einer Ideologie, nämlich dem Neoliberalismus.

Was aber sind Interessen? Sind das Bedürfnisse oder bewusste Wünsche? Oder etwas anderes? Interessen bezeichnen diejenigen – in Ermangelung eines besseren Wortes – Wünsche, die einzelne oder Gruppen von Menschen ausprägen müssten, um ihre Bedürfnisse besser befriedigen zu können. Diese Formulierung macht deutlich, dass Menschen Interessen haben können, ohne davon zu wissen. Ein geeignetes Beispiel ist: Kalziumhaltige Nahrung. Menschen haben ein Interesse an kalziumhaltiger Nahrung. Das ist unbestritten. Sie können also vernünftigerweise den Wunsch ausbilden, regelmäßig Milchprodukte zu sich zu nehmen. Aber auch, als die Menschen noch nicht wussten, was Kalzium ist, gab es bereits das Interesse an kalziumhaltiger Nahrung.

Nun ist das noch ein harmloses Beispiel. Riskant wird es im Politischen. So können gesellschaftstheoretische Gebildete auf die Idee kommen, den Volksmassen mitzuteilen, dass diese Interessen hätten, von denen sie zwar nichts wissen, die aber unbedingt durchgesetzt werden müssen, zur Not auch gegen ihren Willen.

Als Sozialist akzeptiert man erstens die Möglichkeit, dass es Interessen gibt, denen Folge zu leisten zu einem besseren Leben für alle führen kann, und man akzeptiert den Umstand, dass es möglich ist, dass die Mehrheit der Gesellschaft davon nichts weiß. Der demokratische Sozialist muss aber davon absehen, gegen den Willen der Mehrheit irgendwelche Interessen durchzusetzen. Sonst würde er in eine ähnliche Situation kommen wie Technokraten, die das Gemeinwohl in Expertengremien „wissenschaftlich“ ermitteln wollen. Ihm bleibt nur ein Mittel: AUFKLÄRUNG.

Aufklärung kann es aber nur als Prozess unter Gleichen geben. Es gibt nicht den Bescheidwisser, der anderen sagt, wo es lang geht. Karl Marx hat in den Feuerbachthesen bereits diese oberlehrerhafte Form der Aufklärung verworfen. Wenn ich von Gleichen rede, rede ich aber von höchst unterschiedlichen Menschen. Es gibt aufgrund unserer Arbeitsteilung Menschen, die Facharbeiterinnen und Facharbeiter sind, es gibt Menschen, die Akademiker sind, aber auch unter Akademikern ist es so, dass ein Mathematiker und ein Soziologe nicht dieselbe Sprache sprechen. Wie also können wir so sprechen, dass möglichst alle wissen, um was es eigentlich geht, wenn eine politische Debatte stattfindet?

Gregor Gysi´s Wort von der Pflicht zur Übersetzung erschien mit immer einleuchtend. Das Beispiel, das er häufig brachte, stammt aus einer Steuerreform der Schröder-Ära: die Kapitalgesellschaften sollten verpflichtet werden, Veräußerungserlöse in voller Höhe zu versteuern, während Inhaberunternehmen nur verpflichtet waren, den halben Satz zu zahlen. Die meisten verstehen wahrscheinlich nicht, was das heißt und welche Konsequenzen das hat. Ich nehme an, dass die meisten Leser damit wenig anfangen können. Wenn man mit Beispielen und einer am Alltag orientierten Sprache arbeitet, kommt dabei Folgendes heraus: Wenn die Deutsche Bank bisher was verkaufte, dann bekam sie dafür einen Kaufpreis und musste bisher Steuern bezahlen. Wenn der Bäckermeister was verkaufte, kriegte er auch einen Kaufpreis, und darauf musste er einen halben Satz Steuern bezahlen. Aufgrund der damaligen Steuerreform muss der Bäckermeister das Doppelte bezahlen und die Deutsche Bank nichts mehr.

Wenn man so übersetzt, wissen die Menschen, um was es geht. Ich will mich hier nicht gegen Fachterminologie aussprechen. Sie ist in den Wissenschaften notwendig, um mit der erforderlichen Genauigkeit argumentieren zu können. In der Politik nimmt sie aber Züge der Ideologie, der Verschleierung an. Deshalb müssen wir auf unsere Sprache achten.

Die Demokratie muss in den Händen der Bürgerinnen und Bürger bleiben. Das kann aber nur dort gelingen, wo die politische Sprache nachvollziehbar bleibt. Man demonstriert nicht Klugheit, wenn man einen Fachjargon drauf hat. Klug ist es, zur Aufklärung beizutragen. Sonst überlassen wir das Feld entweder den technokratischen Neoliberalen oder den Rechtspopulisten.