Ein Desaster

Die Bilder, die uns aus Afghanistan, vor allem aus Kabul erreichen, sind dramatisch, sie sind herzzerreißend. Ich fürchte allerdings, dass wir viele ganz schlimme Bilder aus den Provinzen des Landes überhaupt nicht zu Gesicht bekommen. Was passiert dort mit Menschen, die als Ortskräfte gearbeitet haben? Was passiert mit Lehrerinnen, die an Mädchenschulen unterrichtet haben? Was passiert mit mutigen Journalistinnen oder Politikerinnen, die Afghanistan in den letzten Jahren mit ihrem Mut in kleinen Schritten verändert haben?

Ich glaube den derzeitigen Versprechungen der Taliban, niemandem wird etwas geschehen, nicht. Wenn wir über ein Desaster des politischen Westens oder ein Desaster für die Politik von Angela Merkel sprechen, dann trifft das nur einen Teil der Realität: Ein Desaster ist das, was in Afghanistan angerichtet wurde, für die Kinder, Frauen und Männer, die dort weiterleben müssen, wenn der letzte Flieger Kabul verlassen hat.

Mich macht es sprachlos, wie es politisch verschleppt wurde, Menschen rechtzeitig aus den Klauen der Steinzeit-Krieger zu befreien. Wie Visa-Verfahren unmöglich gemacht wurden, um Ortskräfte ausreisen zu lassen, und wie Warnungen aus der eigenen Botschaft in Kabul in Berlin ignoriert wurden. Hätten Heiko Maas, Annegret Kramp-Karrenbauer und Horst Seehofer politischen Anstand, sie würden Verantwortung übernehmen.

20 Jahre sind Truppen und Nachrichtendienste im Land. Alle waren offensichtlich ahnungslos. Es wäre zwingend gewesen, erst die Ortshelfer und diejenigen, in deren Schuld wir stehen, aus dem Land zu holen, und dann die Truppen abzuziehen. Jetzt konzentriert sich die Rettung auf Kabul. Das greift zu kurz. Wer in den Provinzen des Landes lebt, erreicht den Flughafen Kabul nicht. Es muss deshalb alles unternommen werden, die Rettungsmission über das Land auszuweiten, um Menschen auch aus Kundus, Kandahar oder Mazar-e Sharif die Flucht zu ermöglichen. Wenn das gelungen ist, müssen wir über Verantwortung und Schlussfolgerungen sprechen. Verantwortung für diesen Einsatz. Und darüber, wie Verantwortung Deutschlands jenseits von Kriegs- und Auslandseinsätzen aussieht. Ohne jede Rechthaberei zeigt sich: Die Regime-Change-Politik des Westens ist kläglich gescheitert und darf sich nicht wiederholen.