Dietmar Bartsch: Nie wieder eine Politik der systematischen Zerstörung von Menschlichkeit zulassen

16.05.2019, Vereinbarte Debatte zum 70. Jahrestag des Grundgesetzes – Vor fünf Jahren hat hier an dieser Stelle der von mir sehr geschätzte Navid Kermani zum 65. Jahrestag des Grundgesetzes eine berührende Rede gehalten. Er wies darauf hin, dass der Satz ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar‘ paradox sei. Denn wenn sie unantastbar sei, müsse sie ja nicht festgeschrieben werden. Und er hat recht. Der industrielle Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden und der Vernichtungskrieg im Osten waren grausame Höhepunkte dieses Gewaltregimes und haben gezeigt, dass ein Staat den Verstoß gegen die Menschenwürde zum Prinzip erheben kann. Es muss daran erinnert werden, dass die Deutschen nicht in der Lage waren, die sogenannte Machtergreifung der Nazis zu verhindern. Und sie waren auch nicht in der Lage, deren Herrschaft aus eigener Kraft abzuschütteln. Befreiung war nur von außen möglich durch den Sieg der Streitkräfte der Anti-Hitler-Koalition. Menschen überall in der Welt zahlten für unsere Befreiung einen hohen Preis. Und letzte Woche haben wir diesen Tag der Befreiung gedacht. Und es war, meine Damen und Herrn, ein Tag der Befreiung. Das muss man immer wieder betonen. Und das sollten alles Abgeordneten des Deutschen Bundestages immer wieder betonen – Befreiung von einer Politik der Unmenschlichkeit. Dass Politik auf die systematische Zerstörung der Menschlichkeit hinausläuft, das dürfen alle nie wieder zulassen. Gerade deswegen ist es so wichtig, die Tragweite des Artikels 1 zu verstehen. Er ist ein Versprechen, das auf jeden Tag neu eingelöst werden muss.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 70 Jahre Grundgesetz sind zu Recht ein Anlass, über das Grundgesetz, über Deutschland, über seine Geschichte, aber auch über seine Gegenwart hier im Plenum würdigend zu debattieren und nachzudenken. Entscheidend ist: Das Grundgesetz ist die Antwort auf den und eine praktische Lehre aus dem Zivilisationsbruch der Nationalsozialisten. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ als der zentrale Satz

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

ist eine Antwort auf ein Regime, für das „Menschenwürde“ ein Fremdwort war.

Vor fünf Jahren hat hier, an dieser Stelle, der von mir sehr geschätzte Navid Kermani zum 65. Jahrestag des Grundgesetzes eine berührende Rede gehalten.

(Beifall der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Er wies darauf hin, dass der Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ paradox sei; denn wenn sie unantastbar sei, müsste es ja nicht festgeschrieben werden. Und er hat recht. Der industrielle Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden und der Vernichtungskrieg im Osten waren grausame Höhepunkte dieses Ge­waltregimes und haben gezeigt, dass ein Staat den Verstoß gegen die Menschenwürde zum Prinzip erheben kann.

Es muss daran erinnert werden, dass die Deutschen nicht in der Lage waren, die sogenannte Machtergreifung der Nazis zu verhindern. Sie waren auch nicht in der Lage, deren Herrschaft aus eigener Kraft abzuschütteln. Befreiung war nur von außen möglich – durch den Sieg der Streitkräfte der Anti-Hitler-Koalition. Menschen überall in der Welt zahlten für unsere Befreiung einen hohen Preis. Letzte Woche haben wir dieses Tages der Befreiung gedacht, und es war, meine Damen und Herren, ein Tag der Befreiung – das muss man immer wieder betonen, und das sollten auch alle Abgeordneten des Deutschen Bundestages immer wieder betonen –,

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

der Befreiung von einer Politik der Unmenschlichkeit. Dass Politik auf die systematische Zerstörung der Menschlichkeit hinausläuft, das dürfen wir alle nie wieder zulassen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Wolfgang Kubicki [FDP])

Gerade deswegen ist es so wichtig, die Tragweite des Artikels 1 zu verstehen. Er ist ein Versprechen, das jeden Tag aufs Neue eingelöst werden muss. Dieser Satz muss als Auftrag an die konkrete Gesellschaftsgestaltung verstanden werden. Der Geist des Grundgesetzes ist ein radikaler Bruch mit dem Faschismus. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben genau gewusst, dass der Kampf gegen den Faschismus umfassend sein muss, dass ein Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Würde des Menschen nicht reicht, dass dieses Bekenntnis im Staat verankert sein muss.

Der Geist des Grundgesetzes verpflichtet uns deswegen, auch eine soziale Politik zu machen, einen solidarischen Staat und eine solidarische Gesellschaft zu gestalten. Das Grundgesetz ist ein Bekenntnis zur sozialen Demokratie, lieber Christian Lindner. Im Artikel 20 des Grundgesetzes heißt es nicht umsonst:

„Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Bundesrepublik wurde mit diesem Artikel als sozialer Rechtsstaat definiert. Artikel 79 Absatz 3 stellt, wie wir alle wissen, diese Definition unter den Schutz der Ewigkeitsklausel. Das zeigt, wie zentral die soziale Demokratie im Grundgesetz ist. Deswegen findet sich neben der Eigentumsgarantie auch deren Einschränkung durch Gemeinwohl bzw. die sogenannte Sozialpflichtigkeit in Artikel 14.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Mütter und Väter des Grundgesetzes wussten ganz genau, dass eine allzu große soziale Spaltung die Gesellschaft gefährdet. Es ist doch auch kein Zufall, wenn im Koalitionsvertrag steht: „Ein neuer Zusammenhalt für unser Land“. Das sagt vor allen Dingen eins, dass es offensichtlich Defizite im sozialen Zusammenhalt gibt.

(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Richtig! Genau!)

Tatsächlich ist die Gesellschaft sozial gespalten wie seit Jahrzehnten nicht. Die Republik und auch das Grundgesetz werden aktuell auf eine Bewährungsprobe gestellt; denn mittlerweile ist die Unantastbarkeit der Menschenwürde leider infrage gestellt. Es gibt sogar Zehntausende Men schen, die das Grundgesetz als Verfassung infrage stellen. Wir alle haben gesehen: Wenn in Plauen Rechtsextreme marschieren, dann ist das ein Wiedergänger jenes Faschismus, den wir alle längst erledigt glaubten.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Aber es ist nicht nur die Reinkarnation des Nationalsozialismus, die das Grundgesetz auf die Probe stellt. Eine Gefahr ist auch die neoliberale Umgestaltung unserer Gesellschaft und des Staates. Der Neoliberalismus will eine andere Demokratie als das Grundgesetz. Ich will mal die – Zitat – „marktkonforme Demokratie“ hier erwähnen. Die „marktkonforme Demokratie“ unterwirft die Demokratie und die Menschenrechte der Verwertungslogik – und das kann letztlich die soziale Demokratie zerstören, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der LINKEN)

In einer sozialen Demokratie geht es stattdessen darum, den Kapitalismus dort, wo er Demokratie zerstört, einzuhegen. Dieses Einhegungsprojekt ist aber schon lange kein Thema mehr in der Politik in Deutschland, obwohl das Grundgesetz, die Verfassung, darauf angelegt ist. Das ist im Übrigen auch der Sinn, lieber Christian Lindner, von Artikel 15, den Sie für sozialistisch halten. Für andere ist er ein Relikt. Aber: Es geht darum, zu vergesellschaften, wenn andere Steuerungsinstrumente versagen. Das ist der Sinn, der dort festgehalten wird.

(Beifall bei der LINKEN – Christian Lindner [FDP]: DDR!)

Dass das Thema Vergesellschaftung selbst heute hier zu so hysterischen Reaktionen führt, dass viele neoliberale Glaubenssätze nicht mal mehr auch nur hinterfragt werden dürfen, das finde ich, ehrlich gesagt, grotesk. Die Debatten der letzten Wochen und die wirklich hysterischen Schreie auch einiger hier aus dem Haus haben gezeigt, wie beschränkt viele mittlerweile sind, über Wirtschaft und Gesellschaft abseits vom Turbokapitalismus nachzudenken.

(Beifall bei der LINKEN)

Da ist das Grundgesetz offener, kreativer als manche Debattenbeiträge der letzten Wochen. Statt die Lehren, die im Grundgesetz verankert sind, ernst zu nehmen, wird bei jedem Anlass schnell die Änderung des Grundgesetzes gefordert. Ich will Herrn Harbarth – unlängst noch in diesem Hause – zitieren, der in der „FAZ“ diese Woche ein bemerkenswertes Interview gegeben hat. Er hat gesagt: Ob jede der über 60 Änderungen des Grundgesetzes sinnvoll war, will er bezweifeln. – Ich will dem gerne folgen und zum Beispiel an das Asylrecht und andere Dinge erinnern, wo wir das Grundgesetz nicht unbedingt verbessert haben.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das meint er, glaube ich, nicht!)

Deswegen, meine Damen und Herren, haben mich die sehr leichtfertigen Forderungen, Artikel 15 abzuschaffen, ehrlich gesagt, entsetzt. Ich finde das anmaßend. Insbesondere die ersten 20 Artikel sind doch nicht einfach mal so abzuschaffen.

(Zuruf von der LINKEN: Genau!)

Oder glauben diejenigen, die das wollen, wirklich, dass sie es besser wissen als die, die das Grundgesetz geschrieben haben, als diejenigen, die Zerstörung und Leid durch die Nazis unmittelbar vor Augen hatten? Nein, lieber Christian Lindner: Auch bei Artikel 15 haben sich die Damen und Herren auf Herrenchiemsee etwas gedacht, nämlich dass das Gemeinwohl im Zweifel über Kapitalinteressen stehen muss.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das Grundgesetz und die Verpflichtungen daraus sind natürlich nur so stark und lebendig wie die Verfassungspraxis. Verfassung und Praxis sind immer auch ein Ausdruck der Zeit. Das kann man sich an der Geschichte der Bundesrepublik alt, aber auch bezogen auf die Zeit nach 1989 anschauen. Und ja, es gab damals – es ist darauf verwiesen worden – den Entwurf des Runden Tisches. Und ja, der Artikel 146 gibt immer noch die Möglichkeit, eine seriöse Debatte zu führen. Es waren im Übrigen vor allen Dingen die Bürgerbewegten, die sich hier sehr engagiert haben.

Das Grundgesetz, meine Damen und Herren, ist immer nur so gut wie seine Institutionen, die den Geist leben. Deswegen liegt es an uns allen – Herr Brinkhaus hat zu Recht darauf hingewiesen, dass wir die Einzigen sind, die direkt vom Volk gewählt werden –, den Geist des Grundgesetzes zu leben. Wir – bei aller scharfen und notwendigen Auseinandersetzung – müssen das hier im Bundestag zuallererst tun. Nur dann werden wir dem Geist der Väter und der wenigen Mütter des Grundgesetzes gerecht.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)