Frieden

Im Asowschen Meer ist es zu einer direkten Konfrontation zwischen russischen und ukrainischen Militärschiffen gekommen. Die Darstellungen des Zwischenfalls variieren erheblich. Gleichwohl ist es unerheblich, wer am konkreten Zwischenfall unmittelbare Schuld trägt. Wichtiger ist, wie es überhaupt zu einer so spannungsgeladenen Situation kommen konnte. Am wichtigsten jedoch ist, welche Wege denkbar sind, um das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen und in der Folge das ukrainisch-russische Verhältnis zu entspannen.

Sowohl das Agieren Russlands im Asowschen Meer als auch die Annexion der Krim sind Vorgänge, die aus völkerrechtlicher Sicht problematisch bzw. unhaltbar sind. Das Asowsche Meer ist laut einem Abkommen zwischen der Ukraine und der Russischen Föderation aus dem Jahr 2004 ein gemeinsam genutztes Gewässer mit weitreichenden wechselseitig eingeräumten Rechten. Es sieht nicht so aus, als würde die gegenwärtige Situation dem entsprechen. Außerdem hat die Russische Föderation im Zuge der Abschaffung der ukrainischen Nuklearwaffen der ukrainischen Seite die territoriale Integrität garantiert. Die Annexion der Krim widerspricht dem aufs Schärfste.

Allerdings ist die Relativierung völkerrechtlicher Verpflichtungen durch Russland keine bloße Laune. Ihr ging ein Jahre andauernder Prozess der Relativierung des Völkerrechts durch den Westen voraus. Eine Haltung nach dem Motto „Was ihr könnt, können wir auch!“ ist zwar nicht richtig, aber sie macht deutlich, dass es der Westen nicht leicht haben wird, auf Einhaltung völkerrechtlicher Verpflichtungen zu bestehen.

Was meine ich mit der Relativierung völkerrechtlicher Verpflichtungen? Bereits der Zerfall Jugoslawiens ist durch die Bundesregierung beschleunigt worden. Die nach Unabhängigkeit strebenden Teilrepubliken wurden anerkannt und damit eine Möglichkeit, die Krise Jugoslawiens vernünftig zu überwinden, verspielt. Bald darauf begannen Vertreibungen und andere Kriegsverbrechen auf allen Seiten. Wirklich ernst wurde es mit dem Kosovokrieg. Dieser Krieg muss als Angriffskrieg eingestuft werden. Sein politisches Ziel bestand darin, das Kosovo mit KFOR-Truppen zu besetzen. Jahre später wurde das Kosovo gegen den Willen Belgrads von Serbien abgetrennt. Auch das, die Sezession des Kosovo gegen den Willen Serbiens, ist ein völkerrechtswidriger Akt ebenso wie ein Angriffskrieg. Auch die Intervention der NATO in Afghanistan ist völkerrechtlich fragwürdig, und der Angriff gegen den Irak durch die US-geführte Koalition der Willigen war offensichtlich ein Völkerrechtsbruch. Ebenso ist die Mandatierung der Flugverbotszone in Libyen für sich zwar akzeptabel gewesen, ihre missbräuchliche Ausdehnung dahingehend, dass die NATO selbst kriegsführender Akteur wurde, aber nicht mehr. Aus russischer Perspektive hat sich der Westen als unzuverlässiger „Partner“ herausgestellt.

Der damalige russische Präsident Medwedjew hatte auf aufschlussreiche Weise gegen die Abtrennung des Kosovo argumentiert. Seine Bezüge auf geltende Völkerrechtsprinzipien enthielten ein reziprokes Moment: Wenn der Westen die Unabhängigkeit des Kosovo akzeptiert, damit also eine andere Deutung des geltenden Völkerrechts zu etablieren versucht, dann wird Russland das künftig auch so handhaben. Man hat das im Westen nicht ausreichend ernst genommen. Offenbar glaubte man, es würde bei der Anerkennung solche „Staaten“ wie Abchasien oder Südossetien bleiben. Blieb es aber nicht, wie der Fall Krim zeigt.

Man mag die Politik Russlands in Bezug aufs Völkerrecht kritisieren, und ich tue das, aber der Westen wird es schwer haben, die Einhaltung von Kriterien zu fordern, die er faktisch relativiert hat. Das ist das erste Problem, das wir uns klar machen müssen, falls wir ein wirkliches, nicht nur dahergeredetes, Interesse an einer Verbesserung der Beziehungen zu Russland haben. Anders gesprochen, es gibt für den Westen keinerlei Grund zur Selbstgerechtigkeit, dafür jedoch zur Selbstkritik.

Ähnlich ist es mit der sicherheitspolitischen Situation. Die Ankündigung von Donald Trump, aus dem INF-Vertrag auszusteigen, ist nur ein weiterer Schritt in einer Kette von Ereignissen, die Misstrauen geschürt und Vertrauen zerstört haben.

1991 löste sich der Warschauer Vertrag auf. Damit entfiel eine der wichtigsten Legitimationsgrundlagen für die NATO: die so genannte „kommunistische Bedrohung“. Zum real beschrittenen Weg, neue Legitimationsgrundlagen für die alte NATO zu schaffen, gab es Alternativen. Eine Möglichkeit hätte darin bestanden, dass Russland Mitglied in der NATO wird. Wenn man in Rechnung stellt, dass selbst die Erdogan-Türkei Mitglied eines angeblich Sicherheit schaffenden Bündnisses sein kann, fragt man sich, wo das Problem mit einem Putin-Russland bestehen sollte. Aber dieser Weg wurde nicht beschritten. Eine andere Möglichkeit hätte darin bestehen können, auch die NATO aufzulösen und ein System kollektiver Sicherheit in Europa, unter Einschluss Russlands, zu etablieren. Im Unterschied zu einem Militärbündnis, das Sicherheit „nach außen“, zur Not auch mit Kriegseinsätzen, schaffen soll, ist ein System kollektiver Sicherheit „nach innen“ gerichtet. Es geht hier um vertrauensbildenden Maßnahmen wie Rüstungskontrollen, Abrüstung und auch gegenseitige Beobachtung von Militärmanövern. Ergänzend können Abkommen über gegenseitigen Beistand hinzukommen, falls mit äußeren Feinden zu rechnen ist. Aber auch diese Möglichkeit wurde nicht genutzt. Was es gab, war der NATO-Russlandrat. Wie sinnlos diese an sich gute Idee war, zeigte sich in der Ukraine-Krise. Hier hätte er intensiv tagen müssen. Stattdessen wurde er de facto abgeschafft.

Der Fortbestand der NATO hatte für Russland unerfreuliche Folgen. Entgegen den Zusicherungen bei der Herstellung der deutschen Einheit, die NATO nicht nach Osten zu erweitern, ist genau das passiert. Es gibt hier Ausreden. Informelle Absichtserklärungen von damals seien eben nicht bindend etc. Nur ohne diese wäre es vermutlich nicht zur deutschen Einheit gekommen. Zweitens werden, das ist nicht unüblich bei zwischenstaatlichen Verhandlungen, aktuell schwer lösbare Konflikte ausgeklammert mit der Zusicherung, sie später zu lösen. Das ist nicht passiert. Dann wurde ein Land nach dem anderen in die NATO aufgenommen. Heute steht die NATO an den Grenzen Russlands.

Hinzu kommt, dass der Raketenabwehrschirm gegen die Bedenken Russlands errichtet wurde. Schließlich wurde der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) von der NATO torpediert. Der Zerfall des Warschauer Vertrags, der Sowjetunion und die Osterweiterung der NATO machten eine adaptierte Fassung des KSE-Vertrags nötig. Dieser wurde auch ausgehandelt und von den Nachfolgestaaten der UdSSR einschließlich Russland ratifiziert, jedoch nicht von den NATO-Staaten. 2007 setzte Russland die Umsetzung aus, 2015 wirkte Russland auch nicht mehr in Sitzungen der Beratungsgruppe mit.

Ähnlich kühl sind auch die Beziehungen Russlands zur EU. Während man in den 90er Jahren ausgesprochen intensiv und detailliert mit Russland über die Beitritte osteuropäischer Länder verhandelte, schließlich ging es auch um wirtschaftliche Interessen, wuchs später das Desinteresse an einer Verständigung mit Russland. Auch die recht enge Sicherheitskooperation zwischen der NATO und der EU hat aus russischer Sicht zu der sicher vereinfachten, aber nicht völlig falschen These geführt: Kommt die EU, kommt die NATO. Auch hier gilt, wenn wir ein besseres Verhältnis zu Russland wollen, geht das nur über die EU.

Was heißt das nun konkret? Erstens, wir können auf Russland bei der Bewältigung größerer internationaler Krisen nicht verzichten. Das Negativbeispiel ist Syrien, wo sich der Westen und Russland gegenseitig mit obskuren Lösungsvorschlägen überbieten. Das Positivbeispiel ist das Iran-Abkommen, das eben nur den Fehler hat, dass die USA ausgestiegen sind. Zweitens, wir müssen Wege finden, die Angst gegenüber Russland, die es in einigen Ländern Osteuropas, namentlich in Polen, gegenüber Russland gibt, abzubauen. Eine politische Möglichkeit bestünde in der Wiederbelebung des Weimarer Dreiecks.

Die Idee des Systems kollektiver Sicherheit mag im Augenblick unsinnig erscheinen, aber einige Elemente können ja im Verhältnis der NATO zu Russland ausgebaut werden. Dazu muss aber auch gehören, dass weitergehende Erweiterungen ausbleiben. Der NATO-Russlandrat muss wiederbelebt werden und der KSE-Vertrag in seiner adaptierten Fassung muss auch von den westlichen Staaten ratifiziert werden.

Schließlich halte ich es für erforderlich, dass im Rahmen einer Europäischen Konferenz, die OSZE könnte hier das Dach bilden, offene Territorialkonflikte in Europa geklärt werden. Schließlich sollten Prinzipien wie die territoriale Integrität auch tatsächlich gelten.