Dietmar Bartsch: Bundesregierung macht gegenüber Erdogan eine Appeasement-Politik

10.11.2016 – Die Bundesregierung hat in all der Zeit ihre Politik gegenüber der Türkei faktisch nicht verändert. Es gibt keine realen Konsequenzen. Sie haben sogar das Gegenteil gemacht. 14 Tage vor der Wahl ist Kanzler Merkel zu Herrn Erdogan gefahren – das ist de facto eine Wahlunterstützung. Und damit haben sie Menschenrechte und Demokratie mit auf den Verhandlungstisch gelegt, aber die gehören niemals und nirgendwo auf den Verhandlungstisch. Die Waffenexporte sind all den Monaten weiter gestiegen. Seit Beginn der Flüchtlingskrise ist die Türkei im Waffenexport-Ranking von Platz 25 auf Platz 8 vorgerückt. Beenden Sie den menschenunwürdigen Flüchtlingsdeal mit der Türkei! Beenden Sie die Rüstungsexporte in die Türkei! Die Beitragsverhandlungen müssen gestoppt werden. Und setzen Sie sich unmissverständlich für die Freilassung aller Abgeordneten ein.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor einigen Wochen war der Vorsitzende der HDP, Herr Demirtas, bei uns zu Gast. Wir haben miteinander gesprochen. Zum Abschluss sagte er zu mir: Den nächsten Kontakt werden wir vermutlich über Briefe aus dem Gefängnis haben. – Ich habe das, ehrlich gesagt, nicht für möglich gehalten und eher für eine sarkastische Überspitzung – trotz der Kenntnis von den Entwicklungen in der Türkei in den letzten Monaten. Aber, meine Damen und Herren, wir alle wissen, genau das ist auf furchtbare Art und Weise eingetreten.

Wir haben die Entwicklung gesehen: die gewaltsame Niederschlagung der Proteste im Gezi-Park, die Niederschlagung der Demonstrationen zum Weltfrauentag, die Unterstützung der Türkei für den IS – die Türkei war und ist Transitland des Terrorismus – und, und, und. Auch der jetzt vorgelegte Bericht der EU-Kommission fällt ein katastrophales Urteil über die Türkei.

Lieber Frank-Walter Steinmeier, es geht auch uns nicht um einfache Lösungen. Niemand hat einfache Lösungen. Aber das Entscheidende ist: Die Bundesregierung hat in all der Zeit ihre Politik gegenüber der Türkei faktisch nicht verändert. Es gibt keine realen Konsequenzen. Sie haben sogar das Gegenteil gemacht. Ich will einmal daran erinnern: 14 Tage vor der Wahl ist Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Herrn Erdogan gefahren, um ihn de facto zu unterstützen. Was ist denn das sonst?

(Beifall bei der LINKEN)

Das ist de facto Wahlunterstützung. Damit haben Sie Menschenrechte und Demokratie mit auf den Verhandlungstisch gelegt. Das ist die reale Situation.

(Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Der Außenminister hat mit der Opposition gesprochen!)

Aber Menschenrechte und Demokratie gehören niemals und nirgendwo auf den Verhandlungstisch.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich habe die kritischen Worte eben zur Kenntnis genommen. Auch Ihre Maßnahmen können wir vermutlich weitgehend mittragen. Aber real ist es so: Sie machen gegenüber der Türkei eine Appeasement-Politik und nichts anderes.

(Beifall bei der LINKEN)

Im Übrigen ist das auch heute sichtbar. Wir hätten überhaupt keine Debatte, wenn wir nicht eine Aktuelle Stunde beantragt hätten. Jetzt ist es, Gott sei Dank, eine vereinbarte Debatte. Ich hätte mir heute eine Regierungserklärung der Bundeskanzlerin gewünscht. Das wäre angemessen.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Hier ist nicht ein CDU/CSU-Minister anwesend, während Sie, Herr Steinmeier, hier eine Rede halten. Das ist nicht akzeptabel.

Es ist gut, dass alle Parteien die Verhaftung von HDP-Abgeordneten und kurdischen Bürgermeistern verurteilen. Das ist auch wichtig. Aber wichtig sind nicht nur deutliche Worte der Bundesregierung, sondern konkretes Handeln ist notwendig. Wir alle kennen doch die Zahlen: Unter dem Vorwand der Aufklärung des Putsches sind 130 000 Beamte, Lehrer, Wissenschaftler, Journalisten und Polizisten entlassen worden. Es gibt 30 000 Inhaftierte. Unabhängigkeit der Justiz? Fehlanzeige. Über 100 Medien, also Zeitungen, Fernseh- und Radiostationen, wurden verboten. Can Dündar ist verhaftet worden. Da sagen Sie hier: Die Vielfalt soll erhalten bleiben. Das ist doch wohl ein Witz. Meinungsfreiheit in der Türkei? Fehlanzeige.

(Beifall bei der LINKEN)

Dass jetzt Abgeordnete der Opposition verhaftet werden – im Übrigen auch die beiden Parteivorsitzenden der HDP –, ist völlig inakzeptabel. Da sind wir doch alle einer Meinung.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das geht weiter. Auch alle Abgeordneten der CHP sind von Erdogan angezeigt worden, weil sie sich dagegengestellt haben. Wir lange wollen wir da noch weiter zusehen? Ich kann Ihnen nur sagen: Wir werden dazu nicht schweigen. Wir werden das immer wieder im Parlament und in der Öffentlichkeit thematisieren. Da helfen keine Worte. Frau Merkel muss bereit sein, ihre Politik gegenüber Erdogan zu ändern.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich habe das Gefühl, dass ihr Verhalten irgendetwas mit dem Flüchtlingsdeal zu tun hat.

Ich will eines sagen: Realität ist, dass die Zahl der Waffenexporte in die Türkei in all den Monaten weiter gestiegen ist. In den letzten zwei Jahren, seit Beginn der Flüchtlingskrise, ist die Türkei im Ranking bei den Waffenexporten von Platz 25 auf Platz 8 vorgerückt. Sie tragen die Verantwortung für die Waffenexporte in dieses Land.

(Beifall bei der LINKEN)

Der Umfang der Waffenlieferungen beträgt rund 200 Millionen Euro. Darunter befindet sich sogar Ausrüstung in Höhe von 420 000 Euro, die in der Anti-Folter-Verordnung aufgeführt ist. So etwas exportieren Sie. Sie können nicht einmal sagen, wo diese Güter alle bleiben. Wir haben die Bundesregierung gefragt, und sie konnte keine Antwort geben. Sie sollten sich teilweise einmal selber zuhören. Gabriel sagt:

„Wir prüfen bei den Genehmigungen stets im Einzelfall nach Lage vor Ort, wobei gerade auch die Menschenrechtslage eine wichtige Rolle spielt.“

Gleichzeitig bietet Ihr Staatsminister Roth offensiv politisches Asyl für Verfolgte. Kann das vielleicht ein Widerspruch sein?

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Obwohl die Repressionen gegen Oppositionelle, gegen Journalisten und gegen Kurden weiter zunehmen, setzen Sie auf militärische Zusammenarbeit mit der Türkei. Heute wollen Sie das Mandat in Incirlik verlängern. Dazu gibt es dann noch eine windelweiche Erklärung, dass sich die Bundesregierung dafür einsetzen will, dass Abgeordnete den Stützpunkt weiterhin besuchen dürfen. Das ist ein NATO-Partner. Wo leben wir denn? Sie sagen im Kern: Erdogan, wir brauchen Sie, Sie können sich daher alles erlauben. – Aber wir sagen: Beenden Sie den menschenunwürdigen Flüchtlingsdeal mit der Türkei. Beenden Sie die Rüstungsexporte in die Türkei. Die Beitrittsverhandlungen müssen gestoppt werden. Setzen Sie sich unmissverständlich für die Freilassung aller Abgeordneten ein.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dies sollten wir möglichst alle gemeinsam tun. Aber die Bundesregierung trägt hier nun einmal eine andere Verantwortung.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)