Wir werden einen Marshallplan für die Ukraine brauchen

16.03.2022 – Dietmar Bartsch: Es gibt keine Rechtfertigung für diesen Krieg Putins. Keine Entschuldigung. Nicht die Ukraine, nicht die NATO haben aus einem Schwelbrand ein Inferno gemacht, sondern der russische Präsident. Er allein ist in der Pflicht, diesen grausamen Angriffskrieg zu beenden. Es muss alles unternommen werden, damit die Ukraine ein souveränes und freies Land bleibt. Wenn dieser Krieg endet, muss die Ukraine wissen, dass wir sie nicht im Regen stehen lassen. Die Menschen, die sich jetzt bei uns in Sicherheit wissen, müssen vertrauen können, dass wir ihnen beim Wiederaufbau helfen.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit 21 Tagen wird die Ukraine von russischen Truppen angegriffen. Seit 21 Tagen sterben Ukrainerinnen und Ukrainer, Frauen und Kinder durch russische Artillerie und russische Raketen. Wladimir Putin trägt die Verantwortung für Tod und Leid, für Angst, für rücksichtslose Zerstörung und millionenfache Vertreibung.

Mehr als 3 Millionen Menschen haben ihre Heimat bereits hinter sich gelassen. Allein in Warschau gibt es 15 Prozent mehr Einwohner als Ende Februar. Die Ministerin hat zu Recht lobend erwähnt, wie dort damit umgegangen wird. Aber auch 500 Meter Luftlinie von hier entfernt kommen am Berliner Hauptbahnhof jeden Tag Tausende Frauen und Kinder aus der Ukraine an, erschöpft, mit nicht mehr als Handgepäck und der Schultasche der Kinder. Das hier im Bundestag so oft gescholtene Berlin leistet Herausragendes und verdient unser aller Dank, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer nicht mehr im Keller in Kiew oder Charkiw um sein Leben bangt, findet in den Nachbarländern und auch bei uns Schutz. Aber was, meine Damen und Herren, muss dieses unfassbare Gefühl sein, alles zurückzulassen und nicht zu wissen, was die nächsten Tage und Wochen bringen?

Meine Damen und Herren, unterstützen wir aber auch die Russinnen und Russen, die sich mit maximalem Mut gegen Putins Krieg stellen, im Freundeskreis und auf der Straße. Der Mut von Marina Owsiannikowa ist beeindruckend. Was für eine tolle, mutige Frau!

(Beifall bei der LINKEN, der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Viele Russinnen und Russen sind wütend, wollen das Sterben ihrer Brüder und Schwestern nicht hinnehmen, auch wenn sie mit 15 Jahren Gefängnis bedroht werden.

Ich habe in Moskau promoviert, zusammen mit Russen, zusammen mit Ukrainern in einem Seminar. Wir haben zusammen Sport gemacht; wir haben zusammen gefeiert. Ich bin ob des Krieges fassungslos, und ich bin auch wütend und entsetzt, dass das passieren kann. Aber die Russinnen und Russen in unserem Land, die russische Sprache, Literatur und Musik tragen keine Schuld. Jegliche Angriffe auf sie müssen unseren entschiedenen Widerspruch hervorrufen.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt keine Rechtfertigung, keine Entschuldigung für diesen Krieg Putins. Nicht die Ukraine, nicht die NATO haben aus einem Schwelbrand ein Inferno gemacht, sondern der russische Präsident. Er allein ist auch in der Pflicht, diesen grausamen Angriffskrieg zu beenden – sofort zu beenden.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, sehr geehrte Frau Außenministerin, so kritisch wir manche Schlussfolgerung aus dem Krieg sehen: Jeden Versuch, den Sie unternehmen, diesen Krieg mit diplomatischen Bemühungen zu beenden, unterstützen wir. Jede Reise, die Sie unternehmen, die das Sterben mitten in Europa beendet, hat die ausdrückliche Unterstützung meiner Fraktion.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber auch jede Sanktionierung, die Sand in Putins Kriegsmaschine streut und Oligarchen trifft, die das System Putin stützen, hat unsere Zustimmung.

(Beifall bei der LINKEN)

Sehr geehrte Damen und Herren, ich sage Ihnen aber auch: Die Reaktion auf die größte Fluchtbewegung seit 1945 kam zu zaghaft. Während am Berliner Hauptbahnhof schon täglich Tausende aus den Zügen stiegen, sagte die Innenministerin noch am 9. März: Eine Verteilung von Geflüchteten aus der Ukraine nach Quoten sei nicht nötig. – Was für ein fataler Irrtum!

(Friedrich Merz [CDU/CSU]: So ist es! Genau so ist es!)

Während die Bürgerinnen und Bürger sich vielfach aufopfern, spenden, Zimmer in ihren Wohnungen freiräumen, hat die Bundesregierung zu lange gewartet. Es ist richtig, dass jetzt endlich ein Verteilungsschlüssel vorliegt. Eine gerechte Verteilung ist nicht allein im Interesse unseres Landes, sondern zuvorderst auch im Interesse der Ankommenden, die optimale Betreuung und vor allen Dingen Perspektiven brauchen. Gerade die so geschundenen Kinderseelen brauchen Chancen. Diese Kinder und ihre Mütter brauchen Sprachkurse und umfassende Betreuung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Ukraine ist ein souveränes Land. Es muss alles unternommen werden, dass die Ukraine ein souveränes und freies Land bleibt. Die Ukraine muss wissen, dass wir sie, wenn dieser Krieg endet, nicht im Regen stehen lassen. Die Menschen, die sich jetzt bei uns in Sicherheit wissen, müssen darauf vertrauen können, dass wir ihnen beim Wiederaufbau helfen. Das heißt, wir werden einen Marshallplan Ukraine dringend brauchen.

Sehr geehrte Damen und Herren, die Bundesregierung allein kann den Krieg nicht beenden; aber sie ist in der Verantwortung, die Kriegsfolgen für die Menschen in Deutschland abzufedern. Dazu haben Sie Möglichkeiten. Diese müssen Sie nutzen – auch damit die Willkommenskultur erhalten bleibt. Und ich sage Ihnen, dass Ihr heute auf den Weg gebrachtes Entlastungspaket dafür nicht ausreichend ist. Wir brauchen für die Bürgerinnen und Bürger, die unter den Kriegsfolgen leiden, jetzt dringend Entlastungen – schnell, unbürokratisch und wirksam.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)