Dietmar Bartsch: 20 Jahre Krieg gegen den Terror sind gescheitert

25.08.2021 – 20 Jahre Krieg gegen den Terror sind gescheitert. Der Versuch, Demokratie zu exportieren, ist gescheitert. Die Bilder aus Afghanistan bringen das Desaster zum Ausdruck, das Deutschland in Afghanistan mit angerichtet hat. Für 420 Millionen Euro hat Deutschland in den letzten Jahren Waffen und Material nach Afghanistan exportiert. Die Taliban haben durch erbeutete Waffen eine Armee auf Nato-Niveau. Der gescheiterte Afghanistaneinsatz ist der schwärzeste Punkt in der 16-jährigen Kanzlerschaft von Angela Merkel. Die Folgen der Fehler der Minister Maas, Kramp-Karrenbauer und Seehofer gefährden Menschenleben.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bilder, die uns aus Afghanistan erreichen, sie sind furchtbar, herzzerreißend, sie sind erschütternd. Sie bringen das Desaster zum Ausdruck, das Sie in Afghanistan mit angerichtet haben.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Petr Bystron [AfD])

Die Folgen dieses Desasters, meine Damen und Herren, werden wir erst in vielen Jahren erfassen können. Meine Fraktion – die Grünen auch – hatte Sie im Juni aufgefordert, die Familien – ich zitiere das – schnell und unbürokratisch zu evakuieren. Frankreich hat das im Mai gemacht. Sie haben das abgelehnt. Das war kurzsichtig, das war kaltherzig, und das war verantwortungslos.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Alle deutschen Staatsbürger hätten spätestens zu diesem Zeitpunkt aus Afghanistan evakuiert werden müssen, jede Ortskraft der Bundeswehr, des Auswärtigen Amtes, der GIZ, Menschenrechtsaktivisten, Journalistinnen und Journalisten. Sie alle hätten gerettet werden können, wenn Sie nach 20 Jahren realistisch auf den Vormarsch der Taliban geschaut hätten. Man hätte eben das größte Risiko annehmen müssen. Stattdessen Handlungsunfähigkeit. „Wir haben die Lage falsch eingeschätzt“, sagen Außenminister und Verteidigungsministerin fast gleichlautend. Auch der Bundesnachrichtendienst ist völlig blank, ebenso alle anderen. Nein, es ist ein Desaster, meine Damen und Herren. Es ist ein Desaster!

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Kollege Wadephul hat eben und sogar auch in der Öffentlichkeit von 20 guten Jahren für Afghanistan gesprochen. Meine Fraktion hat Menschenrechtsaktivisten eingeladen; wir haben dort auch viel Unterstützung gegeben. Aber ich kann nur sagen: 50 000 tote Zivilisten, viele Frauen und Kinder, 66 000 tote afghanische Soldaten und Polizisten, 3 600 tote Soldaten der Allianz, 2,5 Millionen afghanische Flüchtlinge, die das Land schon verlassen haben, 4 Millionen Kinder, die nicht zur Schule gehen, und nach 20 Jahren leben 72 Prozent der Afghanen unter der Armutsgrenze. 20 gute Jahre?

(Jan Korte [DIE LINKE]: Absurd!)

„Nichts ist gut in Afghanistan“, liebe Kolleginnen und Kollegen!

(Beifall bei der LINKEN)

Als ich dieses Zitat von Margot Käßmann hier im Juni verwendet habe, da wurde ich noch beschimpft. Bleiben Sie eigentlich dabei?

Liebe Kolleginnen und Kollegen, 59 tote Bundeswehrsoldaten, viele verwundete Soldaten, Tausende unserer Soldaten haben Traumatisches erlebt, mit lebenslangen Folgen, viele erleiden einen Rückfall angesichts der aktuellen Entwicklung. Frau Bundeskanzlerin, ich glaube Ihnen zwar Ihre Betroffenheit – Sie haben das sehr persönlich geschildert –, aber wie wollen Sie von der Regierung den Angehörigen und denen, die jetzt traumatisiert sind, in die Augen schauen? Wofür haben die Soldaten ihre Gesundheit, gar ihr Leben gelassen? Wofür haben die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler 12,5 Milliarden Euro aufgebracht? Ich will mal dazusagen: 12 Milliarden Euro für das Militär und nur 500 Millionen Euro für zivile Projekte.

Ich will Sie daran erinnern, dass Sie vor fünf Monaten, am 4. März 2021, die Verlängerung des Einsatzes mit folgenden Worten begründet haben – ich zitiere aus dem Mandatstext –:

„Durch den deutschen militärischen Beitrag im Rahmen der NATO-Mission … konnte die Leistungsfähigkeit der afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte an den Standorten Masar-e Scharif und Kundus zur selbstständigen Wahrnehmung von Sicherheitsverantwortung weiter gesteigert werden.“

Und weiter:

„Das deutsche zivile Engagement hat zur Entstehung eines demokratisch kontrollierten Staatswesens, das sich zur Wahrung universeller Menschenrechte bekennt, zur sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung, zum Zugang zu Bildung sowie insbesondere zur Stärkung der Rechte von Frauen und Kindern beitragen können.“

Was für ein Hohn! Was für eine naive Sicht! Und Union und SPD haben dem zugestimmt.

Herr Lindner, ich will Sie dran erinnern: Sie haben, wie immer, zugestimmt. Und jetzt sich hinzustellen und zu sagen: „Wir haben das besser gewusst“, das ist auch einigermaßen wohlfeil.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Alexander Gauland [AfD], an die FDP gewandt: Da hat er recht! – Widerspruch des Abg. Christian Lindner [FDP] – Gegenruf des Abg. Dr. Alexander Gauland [AfD]: Sie waren immer dabei! Natürlich hat er recht! – Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Herr Gauland meint, Sie haben recht, Herr Bartsch! Mal wieder!)

Herr Maas, Frau Kramp-Karrenbauer, Herr Seehofer, die letzten Wochen sind unentschuldbar. Die Folgen Ihrer Fehler gefährden Menschenleben. Sie sind in Ihren Ämtern gescheitert. Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, warum sind Sie nicht eingeschritten? Evakuieren und dann abziehen, das ist die logische Reihenfolge.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dafür, dass Ihre Minister dabei versagt haben, die rechtzeitige und geordnete Evakuierung auf den Weg zu bringen, tragen Sie die politische Verantwortung. Sie haben diesen Krieg zwar von SPD und Grünen geerbt, aber viel zu wenig getan, um ihn zu beenden. Der gescheiterte Afghanistan-Einsatz ist der schwärzeste Punkt in Ihrer 16‑jährigen Kanzlerschaft, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber Ihre Regierung setzt auch jetzt auf Bürokratie anstatt zuallererst auf Rettung. Kurz vor dem Ende der Evakuierungsflüge – das kann ja schon heute sein, wie im Verteidigungsausschuss gesagt worden ist – ändern Sie die Möglichkeit, auszufliegen – jetzt! Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, glauben Sie, dass sich die Taliban bei ihren Racheaktionen an unsere bürokratischen Regeln halten? Es braucht eine gleichberechtigte Rettung aller, meine Damen und Herren!

(Beifall bei der LINKEN)

Marcus Grotian, Hauptmann der Bundeswehr und Gründer des Patenschaftsnetzwerkes Afghanische Ortskräfte, sagt:

„Aufgrund von politischen Entscheidungen, die bürokratisch und fein säuberlich umgesetzt werden mussten, haben wir 80 Prozent der Ortskräfte in Afghanistan zurückgelassen.“

Und weiter sagt er:

„Alle anderen Länder evakuieren jetzt alle Ortskräfte. Wir evakuieren die, die man ausgewählt hat.“

Ich sage: Das ist unmenschlich, und das ist auch nicht hinnehmbar. Wir stehen in der Schuld unserer afghanischen Partnerinnen und Partner.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf der Abg. Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP])

Und weil das hier ja so kritisch genannt worden ist, will ich es ganz ausdrücklich sagen: Ich bedanke mich bei allen Kräften der Bundeswehr, die derzeit unter Einsatz ihres Lebens das Leben anderer retten. Herzlichen Dank auch den Diplomaten und den Mitarbeitern der GIZ und vielen anderen!

(Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Da können Sie ja auch zustimmen! Die müssen sich auch verteidigen dürfen vor Ort!)

Von wegen ideologischer Hass – das Gegenteil ist der Fall!

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Sie tragen die Verantwortung für deren militärische Situation.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, 20 Jahre Krieg gegen den Terror sind gescheitert. Der Versuch, Demokratie zu exportieren, ist gescheitert. Die Taliban gehen wieder auf Menschenjagd, Frauen werden in die Burka gezwungen und trauen sich nicht mehr aus dem Haus. Und die Taliban sind jetzt besser ausgestattet als je zuvor. Sie haben dank erbeuteter US-Waffen eine Armee auf NATO-Niveau, modernste Technik. Die Taliban sind stärker als vor dem 20-jährigen Krieg, haben eine neue Generation von Kämpfern rekrutiert.

Deutschland hat in den letzten Jahren für 420 Millionen Euro Waffen und Material nach Afghanistan exportiert. Die letzte Lieferung wurde noch in diesem Jahr genehmigt. Dazu, was davon in den Händen der Taliban gelandet ist, liegen Ihnen wie beim Vormarsch der Taliban – und wieder Zitat – „keine Informationen vor“. Dass es bis heute keinen Rüstungsexportstopp in die Region gibt, ist der reine Wahnsinn. Rüstungsexporte aus Deutschland nach Pakistan und nach Katar: Das ist unverantwortlich!

(Beifall bei der LINKEN)

Während die USA Staatsbürger und Afghanen nach Katar ausfliegen, fliegt der Emir aus Katar den Talibanchef mit der Luftwaffe von Doha nach Kandahar. Verlogener geht es nicht, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der LINKEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht jetzt ganz klar darum, in den letzten Stunden so viele Menschen aus der Hölle Afghanistan auszufliegen, wie es irgendwie möglich ist.

(Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Genau darum geht es!)

Das bedeutet nicht, sich nur auf Kabul zu konzentrieren. Wie sollen denn die Ortskräfte und Lehrerinnen aus Kandahar oder aus Kunduz den Weg dahin schaffen? Wenn Heiko Maas jetzt sagt: „Die Zeit wird nicht ausreichen, alle auszufliegen, die wir ausfliegen wollen“, heißt das doch: Wir überlassen diese Menschen den mörderischen Taliban.

(Widerspruch der Abg. Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP])

Wir brauchen jetzt uneingeschränkte Solidarität mit unseren Mitbürgern in Afghanistan und den Ortskräften, den Politikerinnen, Menschenrechtsaktivisten, Frauenrechtlerinnen usw.

(Zuruf von der FDP: Stimmen Sie jetzt zu?)

Danach, meine Damen und Herren, brauchen wir Aufarbeitung und Konsequenzen, auch personelle. Die, die daran beteiligt waren, sollten nie wieder Mitglieder einer Bundesregierung sein.

(Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg. Ralph Brinkhaus [CDU/CSU])

Der nächste Bundestag muss per Untersuchungsausschuss dringend alles aufklären und aufarbeiten, schonungslos – ich freue mich, Rolf Mützenich –, schonungslos, Herr Wadephul; sehr damit einverstanden.

Aber Ihre Politik, Soldaten letztlich ohne Strategie in Einsätze zu schicken, ist gescheitert. Und lassen Sie uns endlich Schluss machen mit den blutigen Profiten aus Rüstungsexporten.

(Zuruf des Abg. Dr. Johann David Wadephul [CDU/CSU])

Sie kleben wie ein Schandfleck an unserem Land, meine Damen und Herren.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)