Klarer Kompass statt Corona-Wirrwarr

Seit einem Jahr haben wir Lockdown und Lockerung, dann wieder Lockdown, gepaart mit Lockerungsdiskussionen, neue Wortkreationen wie „Brückenlockdown“, Debatten um ZeroCovid etc. Inzwischen zeigt sich, dass das informelle Gremium, die Konferenz der Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin an seine Grenzen stößt. Irgendetwas wird verabredet und irgendjemand tanzt anschließend aus der Reihe. Das ist in doppelter Hinsicht schlecht: Es untergräbt die Akzeptanz der Corona-Maßnahmen und es lässt die Frage aufkommen, ob das föderale System überhaupt krisenfest ist. Genau das sagt Angela Merkel, wenn sie damit droht, die Corona-Politik ganz auf die Bundesebene zu ziehen.

Unglücklich ist es auch, dass der Bundesgesundheitsminister die „Impfprivilegien“-Debatte neu belebt hat. Erstens, warum Privilegien? Grundrechte wurden eingeschränkt, und das mit guten Gründen. Die Einschränkung von Grundrechten ist begründungsbedürftig, nicht ihre freie Ausübung. Wenn wir bei dieser falschen Ausdrucksweise bleiben, unterstützen wir ein illiberales Weltbild. Das unterstelle ich nicht Spahn, aber eine Tendenz in unserer Gesellschaft hin zu autoritärer Machtausübung kann nicht übersehen werden. Dann aber muss grundsätzlich anders argumentiert werden: Liegen die Gründe, die zu den Freiheitseinschränkungen führten, noch vor? Das hat eine individuelle Ebene – es handelt sich um individuelle Rechte – und eine gesellschaftliche Ebene: Was für Folgen hat die Rückgabe von Rechten für Geimpfte für das Infektionsgeschehen? Das ist vor allem eine vom wissenschaftlichen Erkenntnisstand abhängige Frage. Aber, auch darauf weisen die Erfahrungen aus Großbritannien und Israel hin, sinken ab einer bestimmten Impfquote die Inzidenzzahlen so rapide, dass auch an Lockerungen unabhängig davon gedacht werden kann, ob jemand geimpft ist oder nicht. Das ist vor allem wichtig für jene Menschen, die aus medizinischen Erwägungen heraus nicht geimpft werden können. Auch hier gilt der Wert der Solidarität. Natürlich, es gibt auch Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht geimpft werden wollen. Egal, was ich von diesen Gründen halte, man kann ihnen nicht für immer die Grundrechte entziehen.

Als Linker bin ich der Tradition der Aufklärung verpflichtet, auch wenn mir ihre zuweilen dunkle Dialektik durchaus bewusst ist. Diese Tradition verpflichtet dazu, wissenschaftliche Ergebnisse ernst zu nehmen, nicht sie zu leugnen. Ein Teil der Lockerungsdebatte kommt mir jedoch vor wie Wissenschaftsleugnung. Ähnliches gibt es auch in der Klimapolitik. Aufklärung war immer auch eine liberale Bewegung. Die Geringschätzung der individuellen Freiheit ist aufklärungsfeindlich, sie ist nicht links. Beide Momente der Aufklärungstradition stellen sich nun in der Pandemie als widersprüchliche Momente dar. Jetzt kommt es darauf an, in diesen Widersprüchen denken zu können und den Kompass nicht zu verlieren.