Dietmar Bartsch: Jedes Theater hat sich besser auf Corona-Winter vorbereitet als die Bundesregierung

Antwort auf die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin – Wir erleben eine zunehmende Kluft zwischen dem, was die Bundesregierung leistet, und dem, was sie den Bürgerinnen und Bürgern abverlangt. An zentralen Stellen der Pandemiebekämpfung zeigen Sie sich weitestgehend unfähig. Sie wurden Ihrer Verantwortung in vielen Fragen seit dem Sommer zu wenig gerecht und schieben nahezu alles auf die Bürgerinnen und Bürger. Ins Private.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In großer Regelmäßigkeit wird darüber geredet, dass wir vergleichsweise gut durch die Krise gekommen sind. Ja, ich würde sagen, das stimmt für einige sehr. Es ist so, dass man feststellen kann: Je höher die Einkommen, desto besser kommen die Menschen durch die Krise.

Nehmen Sie das wirklich empörende Beispiel der Supermarktketten. Die Löhne der Kassiererinnen und Kassierer, denen wir alle hier im Frühjahr Applaus gezollt haben, die wir als Heldinnen und Helden bezeichnet haben, sind trotz der Rekordumsätze gefallen, und bei Lidl, Aldi und Co gab es frische Milliarden Euro auf die Konten. Das ist unfassbar, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der LINKEN)

Der Bundespräsident ruft auf, dass das Virus das Land nicht spalten möge. Er wird Gründe dafür haben.

Wir leben jetzt seit fast einem Jahr mit der Krise. Die Bundeskanzlerin sagt: Wir wissen mehr. – Rolf Mützenich sagt: Es gibt nicht nur die eine Maßnahme. – Das ist alles in Ordnung. Aber der Umgang mit der Krise muss doch mit der Zeit professioneller, nachvollziehbarer und vorausschauender werden, und das ist wirklich nicht der Fall.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir erleben vor jedem Beschluss, der von der Runde der Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin gefasst wird, das gleiche Schauspiel: Da ist der bayerische Ministerpräsident, der den Schlauberger gibt, der Ratschläge erteilt und der immer neue Vorschläge macht. Geplante Maßnahmen kann man dann zuallererst über die Medien lesen – auch ein Verfahren, das völlig inakzeptabel ist –, und dann wird Angst verbreitet. Am Sonntag sagt Herr Söder auf einmal: Maskenpflicht für alle in den Kitas. – Jetzt redet er sogar von einem „Flugzeugabsturz“. Im Gegensatz zu Christian Lindner sage ich hier deutlich: Diese martialische Sprache sollte man in dieser Situation wirklich nicht anwenden.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ehrlich gesagt, wenn man das Verfahren sieht, wie hier Politik gemacht und kommuniziert wird: Da fassen sich die Leute doch an den Kopf. So geht das nicht! So wird nicht Vertrauen gewonnen, sondern so wird Vertrauen gestört, meine Damen und Herren. Der bayerische Ministerpräsident scheint genauso wenig die Kontrolle über seine Worte zu haben wie über das Virus in Bayern. Das ist die Wahrheit!

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der AfD)

Dann entscheidet das Gremium der Ministerpräsidenten mit der Bundeskanzlerin. Ja, wir zeigen Respekt gegenüber den Ministerpräsidenten, überhaupt keine Frage. Es ist auch richtig, dass entschieden wird. Aber es wird immer auch über die Einschränkung von Grundrechten entschieden. Es tut mir leid, aber dafür ist dieses Gremium nicht legitimiert – es ist dafür nicht legitimiert! Und der Bundestag darf dann im Nachhinein, also heute, noch ein bisschen darüber debattieren. Frau Bundeskanzlerin, ich erwarte, dass Sie Ihre Erklärung nicht nach, sondern vor diesen Zusammenkünften abgeben.

(Beifall bei der LINKEN)

Ansonsten ist das eine Missachtung des Parlaments.

Was den Begriff „Regierungserklärung“ angeht, liegt bei Ihnen offensichtlich ein Missverständnis vor. Sie haben hier nicht zu erklären, nein, sondern hier muss Regierungspolitik begründet und gerechtfertigt werden, aber nicht nach dem Motto: Die Klassenlehrerin erklärt uns allen die Welt. – So geht das nicht. Ich freue mich im Übrigen, dass Herr Brinkhaus zu Recht darauf hingewiesen hat, dass hier im Parlament die Hoheit über Finanzentscheidungen liegt. Das kann nicht mal so eben nebenbei passieren. Das, finde ich, geht so nicht, und da muss es Veränderungen geben.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich habe die große Sorge, dass es dank des Bevölkerungsschutzgesetzes, das vergangene Woche hier beschlossen worden ist, bei diesem Vorgehen bleibt und dass es im Dezember noch weniger Debatten hier im Deutschen Bundestag gibt. Ich fordere Sie auf, vor der nächsten Runde hier zu erklären, was Ihre Herangehensweise ist. Es bleibt dabei: Bei schweren Grundrechtseinschränkungen muss der Bundestag entscheiden, egal wie sehr Sie das nervt. Hier ist das Gremium, das darüber entscheidet. Alles andere ist demokratieschädigend, ist inakzeptabel und reduziert das Vertrauen der Bevölkerung in die Akzeptanz der Maßnahme.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, nicht nur das Verfahren ist problematisch. Wir erleben zunehmend eine Kluft zwischen dem, was die Bundesregierung leistet, und dem, was Sie den Bürgerinnen und Bürger abverlangen. An zentralen Stellen der Pandemiebekämpfung zeigen Sie sich offensichtlich überfordert. Sie wurden Ihrer Verantwortung in vielen Fragen seit dem Sommer nicht gerecht und schieben alles auf die Bürgerinnen und Bürger und vielfach auch auf das Private.

Frau Karliczek, Sie sprechen über warme Pullover in Schulklassen – Wochen nachdem die Kinder schon mit der Situation umgehen müssen. Wo aber sind denn die Luftfilter in den Schulen?

(Beifall bei der LINKEN)

9 Milliarden Euro für die Lufthansa und nicht 1 Milliarde Euro für ein Bundesprogramm für Luftfilter, das ist doch nicht in Ordnung!

Herr Scheuer, wann sind Sie das letzte Mal Bus oder Bahn gefahren? In den S-Bahnen und in den Regionalbahnen ist so gut wie nichts passiert nach der Pandemie; die sind voll. In den Schulbussen ist teilweise weniger Platz als in Ölsardinenbüchsen. Dass Sie da jetzt endlich etwas tun, dass Sie das entzerren wollen: Na Donnerwetter, kurz vor dem Dezember! Das hätte schon längst passieren müssen!

(Beifall bei der LINKEN)

Frau Grütters, wann helfen Sie der Kultur? Wann fließt das Geld an die Theater und in die Veranstaltungsbranche? Nach deren Pleite?

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Da herrscht Alarmstufe Rot. Ohne Kultur wird es still und düster in unserem Land, und der Winter, der kommt erst noch.

Herr Altmaier – beste Grüße in die Quarantäne; Sie werden sicherlich bei Phoenix der Debatte zuschauen –: Wie lange braucht Ihr Ministerium, um eine Homepage zu programmieren? Offenbar länger, als andere für die Entwicklung eines Impfstoffes brauchen. Sie hatten aber zugesagt, dass das umgehend passiert, und erst gestern ist es umgesetzt worden. Bis heute ist kein Cent ausgezahlt; die Novemberhilfen werden frühestens im Dezember kommen, aber nur als Abschlagszahlung. Was ist denn das für eine Professionalität? Das muss doch schneller gehen.

Genauso ist es mit den Restaurantbetrieben. Denen ist Ende Oktober erzählt worden: befristete Schließungen bis Ende November, und Hilfen sofort. Aber beides ist nicht eingetreten. Jetzt wird verlängert. Ich will überhaupt nicht an der Maßnahme zweifeln. Aber: Wer schließt, der muss auch umgehend helfen. Das aber schaffen Sie nicht, und das ist eben nicht in Ordnung.

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Seehofer – nicht nur aufs Handy gucken! –: Ich habe Ihr Ministerium gefragt, wie viele Menschen aus Risikogebieten nach Deutschland eingereist sind und getestet wurden. Antwort: Sie haben keinerlei Kenntnisse. – Wie will man eigentlich die Pandemie bekämpfen, ohne zu wissen, wie viele Menschen aus Risikogebieten ungetestet einreisen? Es sind doch die Grenzregionen, wo wir so große Probleme haben. Das ist für mich unfassbar.

Herr Spahn – um ihn auch noch zu erwähnen –: Wann kommen denn nun die flächendeckenden Schnelltests in den Pflegeheimen? Jetzt sollen sichere FFP2-Masken an Risikogruppen verteilt werden. In Bremen ist das im Übrigen schon passiert. Das ist eine richtige Maßnahme. Aber warum sind die Masken nicht vor der zweiten Welle verteilt worden?

(Beifall bei der LINKEN)

Wo ist die Impfstrategie, die endlich entwickelt und vorgelegt werden muss? Warum erhalten die Pflegerinnen und Pfleger nicht deutlich mehr Geld, damit auch frühere Pflegeaussteiger zurückkommen? Das muss doch möglich sein; da muss man doch die Attraktivität erhöhen!

(Beifall bei der LINKEN)

Ob in Schulen, in Zügen, in Pflegeheimen oder Krankenhäusern, die Bundesregierung hat in den vergangenen acht Monaten deutlich zu wenig getan. Jedes Theater hat sich besser auf den Coronawinter vorbereitet als die Bundesregierung.

(Beifall bei der LINKEN)

Appellieren Sie nicht nur, sondern machen Sie Ihre Hausaufgaben; sonst verspielen Sie die Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern. Und das ist unser wichtigstes Gut: nicht die Runde, sondern die Akzeptanz und das Mittun der Bürgerinnen und Bürger.

(Beifall bei der LINKEN)

Frau Bundeskanzlerin, Sie haben für diese Woche ein mittelfristiges Konzept gegen Corona versprochen; das wollten Sie vorlegen. Ich zitiere Sie: „eine geschlossene, gemeinsame Antwort“, das haben Sie versprochen. Wo ist denn nun der Plan bis zum Frühjahr, über die Krise hinaus? Oder ist es das, was Herr Braun mitteilt: „Bis März bleibt alles zu“?

Wir brauchen einen Stufenplan. Wir brauchen für die Menschen Planungssicherheit. Ich weiß, dass man nicht alles prognostizieren kann. Aber wir brauchen wenigstens ein paar Leitplanken, wohin die Entwicklung gehen könnte, festgemacht an Zahlen, und das fehlt hier ausdrücklich. Das geht so nicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Menschen in unserem Land handeln vielfach diszipliniert und weitsichtig. Das ist gut, ja. Der Begriff der Solidarität spielt wieder eine andere Rolle in unserem Land, und das ist wirklich gut. Ja, es gibt Hoffnung, auch im Hinblick auf den Impfstoff. Ich sage aber auch ganz deutlich: Die Bundesregierung muss auf dieses Niveau erst noch kommen. Denn nur gemeinsam können wir Corona besiegen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)