Dietmar Bartsch: Ein geeintes Land sollte auch ein sozial gerechtes Land sein

02.10.2020 – Ost und West ist nicht mehr die entscheidende Differenz in unserem Land. Zum Glück! Aber die Armut im Osten und Westen ist auf den höchsten Wert seit 1990 gestiegen. Jeder dritte Ostdeutsche und jeder fünfte Westdeutsche arbeitet für einen Niedriglohn. Mehr Kinderarmut und mehr Altersarmut auf der einen Seite. Unfassbarer Reichtum auf der anderen Seite. Ein geeintes Land sollte immer auch ein sozial gerechtes Land sein. Dafür müssen wir mehr tun.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist so und bleibt dabei: Die Friedliche Revolution ist ein historisches Glück. Und es bleibt auch: Demokratie und Freiheit haben sich die Ostdeutschen erkämpft, friedlich und demokratisch, und daran haben viele einen Verdienst.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Wir sehen im Übrigen in diesen Tagen in Belarus, dass das nicht selbstverständlich ist.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Die Leistung der Ostdeutschen ist es, die 1989/1990 ermöglicht hat. Lieber Christian Lindner, nichts gegen Kohl und Genscher, aber ich finde, dass hier in jedem Fall der Name Gorbatschow genannt werden muss; denn er war wesentlich dafür und hat die Voraussetzung geschaffen, dass das möglich wurde.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ja, meine Damen und Herren, danach ist unheimlich viel erreicht worden; dann wurden aber auch Fehler gemacht. Es geht nicht um Dankbarkeit, wie der Ostbeauftragte der Bundesregierung unlängst gesagt hat, sondern ich sage ganz klar: Die Ostdeutschen sollen stolz sein. Sie sollten mit großem Selbstbewusstsein zurückschauen und vor allen Dingen nach vorne schauen. Ich wünsche mir mehr Selbstbewusstsein der Ostdeutschen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, das Land und die Menschen – das ist hier schon mehrfach gesagt worden – sind vielfach zusammengewachsen. Nicht selten sind heute die Unterschiede, auch die kulturellen, zwischen Nord und Süd größer und augenfälliger als die zwischen den Bundesländern in Ost und West. Das heißt aber wahrhaftig nicht, dass alles gut ist. Es geht zum Beispiel um Akzeptanz von Geschichte; die deutsche Geschichte war zweigeteilt. Das heißt auch Akzeptanz von Biografien, die gelebt worden sind.

Vor allen Dingen ist es so, dass wir von gleichwertigen Lebensverhältnissen, wie es das Grundgesetz festschreibt, immer noch weit entfernt sind. Da ist gar nicht die Frage, wie wir hier das so sehen. Befragungen ergeben, dass 64 Prozent der Bevölkerung weiterhin beklagen, dass wir keine gleichwertigen Lebensverhältnisse haben. Um nur ein Beispiel aus meinem Bundesland Mecklenburg-Vorpommern zu nennen: Die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern arbeiten zwei Wochen länger und bekommen 4 000 Euro weniger im Jahr als die Menschen im Nachbarland Niedersachsen. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit und gleiche Arbeitszeit, das sollte doch unser aller Anliegen sein, für Frau und Mann in Ost und West.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Auswirkungen, die das auf die Rente hat, brauche ich hier nicht darzulegen.

Die ostdeutsche Wirtschaft liegt bezogen auf die Leistungskraft bei 79 Prozent der westdeutschen. Das hört sich passabel an; aber im Jahre 1995 lagen wir schon bei 70 Prozent. Wenn die Entwicklung so weitergeht, dann wissen wir, welche Zeitdimension eine wirkliche Angleichung erfordern wird. Der wirtschaftliche Rückstand des Ostens bis heute hat wesentlich mit der Politik der Treuhand zu tun. 71 Prozent der Ostdeutschen sind heute der Meinung, dass die Treuhandpolitik falsch war. Die Treuhand war der Kardinalfehler der deutschen Einheit, meine Damen und Herren,

(Beifall bei der LINKEN)

und hier brauchen wir – nicht, weil damit Betriebe wiederkommen – dringend eine Aufarbeitung.

(Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Machen Sie doch mal einen Vorschlag!)

Meine Damen und Herren, wir haben noch ein Jahr eine ostdeutsche Bundeskanzlerin. Aber ansonsten ist die Repräsentation der Ostdeutschen wirklich ein Skandal. Ich will nur ein Beispiel aus einem Bundesland nennen: In Sachsen-Anhalt gibt es neben dem Ministerpräsidenten genau zwei ostdeutsche Minister.

(Christoph Bernstiel [CDU/CSU]: Was ist denn für Sie „ostdeutsch“?)

Stellen Sie sich mal vor, in Rheinland-Pfalz wären nur zwei westdeutsche Minister! Undenkbar! Das ist allerdings Standard: kein General der Bundeswehr, kein deutscher Botschafter, kein Rektor einer Uni aus dem Osten. Die erste Verfassungsrichterin wurde jetzt riesig gefeiert. Donnerwetter, kann ich da nur sagen. – Können Sie sich vorstellen, was das bei den Ostdeutschen assoziiert?

Ich will noch ein Beispiel anführen, weil die Forschungsministerin hier ist. Sie hat unlängst eine Batteriefabrik angesiedelt – wo? – in ihrer Heimatregion in Münster. Allein in Nordrhein-Westfalen gibt es doppelt so viele Bundesbehörden wie im gesamten Osten. Und ich habe die Befürchtung, dass sich das mit einem CDU-Vorsitzenden aus Nordrhein-Westfalen nicht ändern wird.

(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Na, na, na, Herr Bartsch!)

Das ist schlicht unfair. Wir brauchen eine gesamtdeutsche Strukturpolitik.

(Beifall bei der LINKEN)

Dazu gehört im Übrigen auch ein Investitionsprogramm für den ländlichen Raum. Wo ist denn das schnelle Internet an jeder Milchkanne? Wo sind denn Bahnstrecken, die stillgelegt wurden, die reaktiviert werden? Das könnte der neue Bundesverkehrsminister, den es ja hoffentlich bald gibt, mal in Angriff nehmen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir sehen doch an den USA, wohin das führt, wenn Regionen abgehängt werden.

Meine Damen und Herren, „Ost und West“ ist nicht mehr die entscheidende Differenz in unserem Land. Ich kann nur sagen: zum Glück. Wir haben inzwischen aber soziale und regionale Unterschiede, die das gesamte Land spalten. Die Armut im Osten und im Westen ist seit 1990 gestiegen; der Armutsforscher Christoph Butterwegge spricht vom höchsten Wert seit der Wiedervereinigung. Heute arbeitet jeder dritte Ostdeutsche und jeder fünfte Westdeutsche für Niedriglohn. Wir haben mehr Kinderarmut, mehr Altersarmut auf der einen Seite und unfassbaren Reichtum auf der anderen Seite. Eine ganz kleine Minderheit von 10 Prozent der Bevölkerung hat doppelt so viel wie die anderen 90 Prozent der Bevölkerung. Würden Sie das eine einheitliche Verteilung nennen? Nein, das ist es überhaupt nicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Morgen begehen wir 30 Jahre deutsche Einheit. Ja, es ist ein Feiertag. Aber, meine Damen und Herren, es ist für uns alle vor allen Dingen eine Verpflichtung. Die Unterschiede sind geringer geworden, aber es bleibt weiterhin viel zu tun. Ich wünsche mir, dass gerade die Ostdeutschen das mit großem Selbstbewusstsein angehen und dass wir die sozialen Unterschiede endlich angehen; denn ein geeintes Land sollte immer auch ein sozial gerechtes Land sein. Dafür müssen wir mehr tun, meine Damen und Herren.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)