Am 8. Mai Nähe zeigen!

Vor 75 Jahren endete der von Nazideutschland entfesselte Zweite Weltkrieg. Den Sieg über den Faschismus und die Befreiung Europas errang eine Koalition von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen, dafür kämpften, litten und starben Menschen verschiedener Weltanschauungen und politischer Orientierungen. Ihnen allen gebührt höchste Achtung. Nutzen Sie heute oder demnächst einen Spaziergang, um an Orten des Erinnerns den Befreiern zu danken, um Widerstandskämpfer zu ehren, um der Opfer zu gedenken. Nehmen Sie Blumen mit. Halten Sie Abstand, doch halten Sie inne und zeigen Sie Nähe! Es ist wichtiger denn je.

Weltweit blüht der Ungeist des Nationalismus auf. „Das eigene Land zuerst“ lautet die mal offen, mal verbrämt vorgetragene Losung. Die Europäische Union macht nach außen dicht und auch im Innern ist es mit der Solidarität nicht weit her. Die extreme Rechte fühlt sich ermuntert. Hierzulande sitzen Faschisten wieder in Parlamenten, aber Antifaschismus gilt behördenamtlich nicht als gemeinnützig. Rechtsradikale glorifizieren die Wehrmacht und verharmlosen den Nazismus. Bedroht werden Andersdenkende und Andersglaubende, Andersfühlende und Andersfarbige. Nicht selten schlägt blinder Hass in blanke Gewalt um.

Deutschland gab 2019 zehn Prozent mehr für Rüstung aus als im Vorjahr! Der Zuwachs lasse sich zum Teil mit der Wahrnehmung einer gewachsenen Bedrohung durch Russland erklären, sagt der Sipri-Friedensforscher Diego Lopes da Silva. Mit knapp 50 Milliarden Dollar liegt der deutsche Militäretat nahe beim russischen. Letzterer beträgt 65 Mrd. Dollar, der us-amerikanische 732 Mrd. Mehr als das Zehnfache! Das ausgerechnet in diesem Jahr vorgesehene Nato-Großmanöver vor den Toren Russlands wurde durch ein Virus gestoppt, nicht durch Vernunft. Es gibt Versuche, Geschichte neu zu schreiben. So wurde bei den offiziellen D-Day-Feiern des Westens ignoriert, dass die UdSSR die Hauptlast des Krieges und des Sieges trug und vielmehr der Eindruck erweckt, die Zerschlagung des Faschismus sei ohne relevante sowjetische Teilhabe geschehen.

Im November 2019 fragte unsere Fraktion die Bundesregierung nach Vorhaben zum 75. Jahrestag der Befreiung und des Sieges über die Nazi-Herrschaft. Wir erhielten ausweichende, überwiegend nichtssagende Antworten: Zu den Planungen einer Gedenkveranstaltung der Regierung könne noch keine Auskunft gegeben werden, eine Teilnahme der Kanzlerin am Gedenken in Moskau werde geprüft, Veranstaltungen in Liegenschaften der Bundeswehr seien nicht vorgesehen. In diesem Stil ging es, abgesehen vom Verweis auf ein paar Einzelvorhaben, weiter. Es ist makaber: eine Pandemie könnte dem offiziellen Berlin manche Peinlichkeit ersparen.

Im Januar 2014 erlebte ich die Rede des damals fünfundneunzigjährigen Schriftstellers Daniil Granin zum Holocaust-Gedenken im Bundestag. Er gehörte als Soldat der Roten Armee zu den Verteidigern von Leningrad. Granin ersparte uns nichts an Tatsachen über das Wüten des deutschen Faschismus. Doch er begann seine Rede im Reichstag mit den Worten: „Gestatten Sie mir, dass ich mich … für die liebenswürdige Einladung bedanke, heute zu Ihnen zu sprechen. Das ist für mich eine große Ehre.“ Ich habe es als Glück empfunden, dass Granins Rede im höchsten deutschen Parlament möglich war. Seither ist allerdings manches geschehen, das mir in Erinnerung an seinen Auftritt die Schamröte ins Gesicht treibt.