Gedanken zur Befreiung von Auschwitz

  • Am 27. Januar 1945 vor fünfundsiebzig Jahren befreiten Soldaten der Roten Armee das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Seither ist Auschwitz zum Symbol für den bürokratisch geplanten und fabrikmäßig durchgeführten Völkermord an den europäischen Jüdinnen und Juden geworden. Seit 1996 wird der Jahrestag der Befreiung von Auschwitz in der Bundesrepublik als Gedenktag begangen, woran die damalige PDS einen nicht unerheblichen Anteil hatte.

Jährlich nimmt der Bundestag diesen Gedenktag zum Anlass, eine Gedenkstunde durchzuführen. In diesem Jahr wird neben dem Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier der israelische Staatspräsident Reuven Rivlin eine Gedenkrede halten. Auf die Rede von Reuven Rivlin bin ich in hohem Maße gespannt, denn ich habe ihn kennengelernt während einer Reise nach Israel, die ich zusammen mit Sahra Wagenknecht unternahm. Wir hatten ein interessantes und aufschlussreiches Gespräch.

Wenn wir über den Nationalsozialismus sprechen, so liegen zwei Lehren unmittelbar auf der Hand: erstens, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen darf und zweitens, dass alles zu tun sei, damit Auschwitz sich nicht wiederhole. Seit der Beteiligung der Bundesrepublik am Kosovokrieg, der ein Aggressionskrieg war, ist die erste Lehre politisch wieder umkämpft. Seit Gauland die zwölf Jahre Naziherrschaft mit dem Wort Vogelschiss bagatellisierte, ist auch deutlich geworden, dass die zweite Lehre aus dem Nationalsozialismus systematisch untergraben wird. Heute haben Jüdinnen und Juden in Deutschland wieder Angst. Das ist eine inakzeptable Entwicklung, gegen die wir kämpfen müssen.

Es gibt aber noch eine dritte Lehre. Diese war immer umstritten: dass die Bundesrepublik Deutschland, auch deutsche Linke, zu einer bedingungslosen Solidarität mit dem Staat Israel verpflichtet sind. Dabei ist wichtig zu sehen, dass „Staat“ und „Regierung“ nicht dasselbe sind. Regierungen und deren Politik kann man immer kritisieren. Nur greift das die Legitimität des Staates nicht an. Wie umstritten dennoch diese Konsequenz ist, erkennt man daran, dass hier gern von einer Staatsräson gesprochen wird. Staatsräson ist immer etwas für den demokratischen Prozess Unverfügbares. So als hätte man Sorge, dass andernfalls, wäre das besondere Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zum Staat Israel Gegenstand demokratischer Debatte, etwas „Falsches“ herauskommen könnte. Aber darum ist ja gerade politisch zu kämpfen, dass das nicht passiert.

Wie lässt sich dieses besondere Verhältnis rechtfertigen? Ganz einfach gesagt dadurch, dass der Nationalsozialismus dem Zionismus historisch recht gegeben hat. Lange glaubten Jüdinnen und Juden, inspiriert durch die bürgerliche Aufklärung, dass die modernen Nationalstaaten, die liberalen und demokratischen Verfassungsstaaten insbesondere, die Hindernisse für eine soziale und staatsbürgerliche Integration jüdischer Minderheiten beseitigen würden. Jedoch nahm im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts die Feindschaft gegenüber Jüdinnen und Juden wieder zu. In Deutschland erlangte Heinrich Gotthard von Treitschke Bekanntheit, indem er den so genannten Antisemitismusstreit auslöste. Der Satz „Die Juden sind unser Unglück“ geht auf ihn zurück. In Frankreich ereignete sich zur selben Zeit die Dreyfus-Affäre. Im zaristischen Russland gab es größere Pogrome. Diese Erfahrungen ließen Intellektuelle wie Theodor Herzl daran zweifeln, dass die staatsbürgerliche Integration der Jüdinnen und Juden erfolgreich sein könnte. Für ihn gab es nur eine Lösung: die Jüdinnen und Juden benötigen ihren eigenen Staat, um frei von Verfolgung leben zu können.

Ironischerweise blieb der Zionismus innerhalb des Judentums stets eine Minderheitsideologie. Erst die nationalsozialistische Herrschaft machte deutlich, wie wenig die Jüdinnen und Juden trotz moderner Staatlichkeit vor Verfolgung geschützt sind, wenn radikale Antisemiten die Macht ergreifen. Deshalb arbeitete die UNO nach dem Zweiten Weltkrieg den Teilungsplan für das Mandatsgebiet Palästina aus und anerkannte damit ausdrücklich die historische Berechtigung des Zionismus. Wer heute so tut, als könnte man das Existenzrecht Israels infrage stellen, der unterbricht den Zusammenhang zwischen antisemitischen Vernichtungsvorstellungen und dem Recht von Jüdinnen und Juden, sich Schutz vor derartigem Vernichtungswillen zu organisieren. Deshalb ist die Solidarität mit dem Staat Israel bedingungslos. Wer dem Satz „Nie wieder Auschwitz!“ zustimmt, der kann das Existenzrecht Israels nicht relativieren.