Sankt Walter und der 3. Oktober

Da war er wieder, der Feiertag, mit dem wenige etwas anzufangen wissen. Natürlich gibt es gute Gründe, den „Tag der Deutschen Einheit“ zu feiern. Doch mit dem 3. Oktober verbinden sich für die meisten Bürgerinnen und Bürger keine Erlebnisse, keine Bilder. Fast alle wissen, wo und wie sie den 9. November 1989 verbracht haben. Aber den 3. Oktober 1990? Im Kalender steht ein Gedenktag, den viele nachschlagen müssen. Selbst Horst Seehofer, unser Innen- und Heimat(!)-Minister, vergaß zunächst, Gelder für die Einheitsfeier in den Haushaltsplan einzustellen. Wolfgang Schäuble beschrieb neulich eine Grundstimmung im ersten Jahr nach der Einheit teils zutreffend und zugleich sein Denken entlarvend so: „Die Haltung in der Bundesrepublik war aber doch überwiegend die: Wir helfen den Ostdeutschen gern, aber in unserem eigenen Leben soll und wird sich nicht viel ändern.“1) 29 Jahre nach dem 3. Oktober 1990, dem „Tag der Deutschen Einheit“, gibt es für Schäuble „die Bundesrepublik“ und „die Ostdeutschen“!

Deutschland 2019, dreißig Jahre nach dem Mauerfall: Die Spaltung zwischen Ost und West besteht fort – mental, wirtschaftlich, sozial. Im Vergleich der Löhne, Renten und Vermögen liegt der Westen vorn, bei den Arbeitszeiten, der Arbeitslosigkeit oder der Kinderarmut ist es der Osten. Der unselige Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung“ und die Abrisspolitik der Treuhand bleiben offene Wunden in der ostdeutschen Gesellschaft. Für Bundesrichter, Universitätsrektoren oder leitende Regierungsbeamte gilt: Keine Posten für den Osten. Im Gegensatz zu diesen Realitäten missrät der vom Ostbeauftragten der Bundesregierung, Christian Hirte (CDU), vorgelegte Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit zu einer einzigen Lobhudelei. Da war Iris Gleicke, Hirtes Amtsvorgängerin, wesentlich differenzierter. Tatsache bleibt: Die Einheit ist längst nicht gewuppt, viele Ostdeutsche fühlen sich als Bürger zweiter Klasse verschaukelt und die „Einheitswippe“ steht – richtig so! – noch immer nicht. The same procedure as every year? Ja, aber nicht nur.

Nachdenkliche, abwägende Stimmen erfahren größere Aufmerksamkeit: Andreas Dresen über Gundermann, Annekatrin Hendel über die Familie Brasch, Wolfgang Engler und Jana Hensel über die Erfahrung, ostdeutsch zu sein. „Wir und die Russen“ von Egon Krenz findet ebenso viele Leserinnen und Leser wie Horst Teltschiks „Russisches Roulette. Vom Kalten Krieg zum Kalten Frieden“. Den kürzlich verstorbenen ersten Deutschen im All, Sigmund Jähn, würdigen Politikerinnen und Politiker unterschiedlicher Couleur. CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak nennt ihn einen „echten Pionier“ und Vizekanzler Olaf Scholz scheut nicht, den einst als „Held der DDR“ Geehrten einen solchen zu nennen. Jedoch: Heinz Florian Oertel gilt als „Heribert Fassbinder der DDR“, Lippert als „Gottschalk des Ostens“, niemand ist je auf die Idee gekommen, Ulf Merbold den „Sigmund Jähn des Westens“ zu nennen. Die Deutungshoheit bleibt bei den selbsternannten Siegern der Geschichte. Immerhin: Aus der Union hören wir die Forderung, ostdeutschen Biografien mehr Respekt zu bezeugen. Schau’n wir mal, was davon nach dem 27. Oktober bleibt, also nach der letzten Landtagswahl dieses Jahres im Osten.

Der Blick nach links wird nuancierter, Berichte über historischen Optimismus gehören dazu und solche über historisches Versagen. Da ist einerseits Raoul Pecks Streifen über den jungen Marx, der ein großes Publikum fand. Andererseits darf der Film „Und der Zukunft zugewandt“ nicht verschwiegen werden, wenn von aktueller Auseinandersetzung mit der Geschichte gesprochen wird. In beklemmender Weise wird gezeigt, was angebliche Kommunisten ihren Genossinnen und Genossen angetan haben.

Eine Erkenntnis bricht sich mehr und mehr Bahn: Prozesse und Geschehnisse im Osten Deutschlands sind nicht mehr allein und nicht mehr zuerst mit dem Rückblick auf die DDR zu erklären. Die von Experten vorausgesagte erhebliche Zunahme der Altersarmut liegt in Entwicklungen nach 1989/90 begründet, in Niedriglöhnen und Langzeitarbeitslosigkeit. Seit 2005, also in der Amtszeit der Kanzlerin Merkel, verdoppelten sich die Zahlen der Kinder, die arm sind oder von Armut bedroht sind genau so wie die Zahl der Vermögensmillionäre. Das Erstarken des Rechtsextremismus ist auch ein Resultat vermeintlich alternativloser neoliberaler Politik. Fremdenfeindlichkeit gedeiht, wo Kriegsflüchtlinge zur Bedrohung und nationalistische Sprüche salonfähig gemacht werden. Vor neofaschistischen Erscheinungen wurden die Augen vor 1989 in der DDR und danach zum Beispiel in Sachsen verschlossen.

Mitunter schreibt die Geschichte allerdings auch schöne Geschichten, über Jahrestage zum Beispiel. Just gestern vor 60 Jahren, am 3. Oktober 1959, ging die Rappbode-Talsperre, ein „Großbau des Sozialismus“, in Betrieb. Vor fünfzig Jahren, am 3. Oktober 1969, wurde der Berliner Fernsehturm am Alexanderplatz offiziell eröffnet. Aus einer ziemlich bemühten Umfrage nach einem Spitznamen für das Bauwerk im Zentrum der DDR-Hauptstadt ging „Telespargel“ als Sieger hervor. Ich kenne kaum jemanden, der den Begriff damals im Munde führte, aber viele, die von „Sankt Walter“ sprachen – bildet sich doch auf der Kugel des von Walter Ulbricht geförderten Turmes bei Sonnenschein ein weithin sichtbares Kreuz. Das Volk lässt sich halt nicht vorschreiben, worüber es sich freut und was es feiert. Damals nicht und heute nicht.

1) DER SPIEGEL Nr. 39/21.9.2019, S. 39