Dietmar Bartsch: Mit Null-Toleranz bei Kinderarmut die Einheit herstellen

4,4 Millionen Kinder leben in Deutschland in Armut. Im Osten ist die Quote fast doppelt so hoch. Kinderarmut ist einer der größten Skandale unserer Zeit und ein Zukunftsrisiko für unser Land. Wir brauchen endlich eine Politik der Null-Toleranz bei Kinderarmut in Ost und West. Das ist die zentrale Herausforderung für die Herstellung der Einheit in unserem Land.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Hirte, ich habe Ihrer Rede zugehört. Ich habe Ihre öffentlichen Äußerungen zur Kenntnis genommen. Ehrlich gesagt: Das alles ist ein Trauerspiel. Sie müssen sich wirklich mal Ihre Arbeitsplatzbeschreibung anschauen. Ich glaube, es ist nicht Ihre einzige Aufgabe, die Bundesregierung zu verteidigen. Ihre Aufgabe ist es, ostdeutsche Interessen wahrzunehmen.

(Beifall bei der LINKEN)

Gucken Sie sich mal an, was Frau Gleicke gemacht hat. Hospitieren Sie mal einen Monat bei ihr. Dann machen Sie das vielleicht mal ein bisschen besser. Sie müssen den Mut zur Kontroverse mit Ihrer Bundesregierung haben.

(Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund [CDU/CSU]: Die Göttinger Studie von Frau Gleicke war großartig!)

Was Sie in Ihrem Bericht öffentlich äußern, ist wirklich eine unverantwortliche Lobhudelei. Lassen Sie mich das an zwei Beispielen erläutern. Die ostdeutsche Wirtschaftsleistung liegt bei 75 Prozent, schreiben Sie in Ihrem Bericht. Das ist alles in Ordnung; das hört sich auch erst einmal passabel an.

Vergleichen wir aber mal diesen Wert mit dem Wert aus dem Jahr 1995. 1995 lag diese Quote bei 65 Prozent. Das heißt, Sie haben in knapp einem Vierteljahrhundert 10 Prozentpunkte Angleichung geschafft. Donnerwetter! Wenn Sie in dieser Geschwindigkeit weitermachen, dann erzielen wir Gleichheit im Jahre 2021. Doch so schnell.

(Manfred Grund [CDU/CSU]: 2021 ist bald! Ich weiß nicht, in welcher Zeit Sie leben! – Dr. Andreas Lenz [CDU/CSU]: Ist doch super!)

– 2081. – Für die Ostlöhne gilt genau dasselbe. Inzwischen, sagen Sie, liegen diese bei 85 Prozent des Westniveaus. 85 Prozent! Im Jahr 2000 lag das Niveau bei 80 Prozent. Auch hier ist es so: Wenn im gleichen Tempo angeglichen wird, dann haben wir erst im Jahr 2073 eine vollständige Angleichung der Löhne. Das ist sehr konkret.

In meinem Bundesland Mecklenburg-Vorpommern zum Beispiel hat ein Mensch mit einem anerkannten Berufsabschluss einen Lohn von durchschnittlich circa 2 400 Euro. In Hamburg verdient ein Mensch ohne Berufsabschluss 2 500 Euro.

(Dr. Andreas Lenz [CDU/CSU]: Schauen Sie auch die Mieten an!)

Es ist doch logisch, dass es unendlich viele Pendler gibt und die Abwanderung fortschreitet. Dagegen muss endlich etwas getan werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Das ist nicht allein Ihre Aufgabe; auch Gewerkschaften und auch Unternehmen sind hier gefordert.

Schauen wir uns das Armutsrisiko an. Das Armutsrisiko im Osten liegt laut Bericht bei 18 Prozent. Wie war das 1995? Da lag das Armutsrisiko bei 15 Prozent. Das heißt, dass heute mehr Menschen arm oder von Armut bedroht sind,

(Thomas L. Kemmerich [FDP]: Nach fünf Jahren linker Regierung in Thüringen!)

nach einem Vierteljahrhundert in Ost und West. Die Arbeitslosigkeit ist dabei im Übrigen ja relevant zurückgegangen.

Wer zynisch sein will, muss sagen: Die blühenden Landschaften entwickelten sich im Osten nicht, und im Westen gibt es sie auch nicht mehr. Stattdessen ist Gelsenkirchen jetzt genauso arm wie Bitterfeld. Herzlichen Glückwunsch! Lieber Herr Hirte, Ihre Lobhudelei zeigt Ihren Realitätsverlust. Das macht mich sprachlos.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie sind so weit weg von den Ostdeutschen wie Ostdeutschland von blühenden Landschaften.

Um es klar zu sagen: Natürlich ist sehr viel erreicht worden; das ist doch unbestritten. Viele Kommunalpolitiker von Union bis zur Linken, viele Ehrenamtliche haben unendlich viel geleistet; das alles ist völlig klar. Wir müssen das aber in einer solchen Debatte nicht allein nach vorne stellen. Die Mehrheit der Ostdeutschen, so steht es in Ihrem Bericht, ist unzufrieden mit der Einheit. Was ist das für ein Offenbarungseid?

(Beifall bei der LINKEN)

Das ist doch unfassbar.

Natürlich hat das auch mit der Präsenz der Ostdeutschen zu tun. Es ist Tatsache, dass kein einziger Rektor einer Universität ein Ostdeutscher ist, weder in Ost noch in West.

(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Unglaublich!)

Es ist Tatsache, dass kein einziger Bundesrichter aus Ostdeutschland kommt. Das ist doch inakzeptabel.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Nur 1,7 Prozent der Spitzenpositionen werden von Ostdeutschen bekleidet. In Ihrer Regierung kommen im Übrigen nur 3 von 120 leitenden Beamten aus dem Osten. Was ist das für eine Situation? Wir wollen keine Extrawurst für die Ossis, aber wir fordern einen Pakt für föderale Fairness bei Personal, Behörden und Forschungseinrichtungen. Das hätte eine hohe Symbolkraft.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Thomas Jurk [SPD])

Ich will kurz auf Carsten Schneider eingehen, der hier etwas zum Thema Batterieforschung gesagt hat. Ja, in Thüringen bzw. in Jena gibt es beste Voraussetzungen dafür. Da ist sogar Batterieforschung möglich, durch die man dann auf Lithium verzichten kann. Dazu hätte man von Ihnen wenigstens etwas hören müssen, selbst wenn Sie sich nicht durchgesetzt hätten, statt einfach zuzustimmen, dass sie nach NRW geht. Ja, wo leben wir denn? Da hätte man was machen können.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

2,3 Stellen aus Bundesmitteln für Beamte und Forscher sind deutscher Durchschnitt, nur 0,7 sind es in Thüringen. Thüringen steht auf dem 16. Platz. Das ist doch Ihr Land; da kommen Sie her. Dort sollten Sie sich mehr engagieren. Thüringen ist leider Schlusslicht, aber nicht einen einzigen Aufschrei habe ich von Ihnen gehört.

(Zuruf von der AfD: Und wer regiert da?)

– Ja, Bodo Ramelow engagiert sich dafür, Gott sei Dank, aber er kriegt von der Bundesregierung so wenig Mittel. Das ist der Punkt.

(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie sollten sich um Thüringen kümmern. Kümmern Sie von der FDP sich mal darum, dass Sie reinkommen. Sie werden damit große Probleme haben.

Im Übrigen gibt es – um auch das zu erwähnen – eine ganze Menge Kennziffern, die Sie einfach ausblenden. Nehmen wir das Thema Kinderarmut. In Deutschland sind 4,4 Millionen Kinder von Kinderarmut betroffen – die Zahl habe ich hier mehrfach genannt –: einer der größten Skandale, die wir haben. Sie ist aber in Ostdeutschland proportional doppelt so hoch, meine Damen und Herren. Da muss man doch was tun. Wir brauchen endlich eine Politik der Nulltoleranz bei Kinderarmut in Ost und West. Das ist die zentrale Herausforderung für die Herstellung der Einheit in unserem Lande.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Thomas Jurk [SPD])

Ähnlich ist es beim Niedriglohn. Jeder dritte ostdeutsche Arbeitnehmer arbeitet zu einem Niedriglohn. Die Quote im Osten ist fast doppelt so hoch. Und wozu führt das? Das ist eine tickende Zeitbombe, was Altersarmut betrifft. Altersarmut wird in einigen Jahren zuallererst ostdeutsch und zuallererst weiblich sein. Da muss doch gehandelt werden, meine Damen und Herren. Da kann man nicht nur Lobhudelei betreiben.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Thomas Jurk [SPD])

In sechs Wochen begehen wir 30 Jahre Mauerfall. Die Ostdeutschen und viele andere können stolz sein. Dazu ist schon einiges gesagt worden. Es ist viel erreicht worden; es ist viel geleistet worden. Aber eines zeigt der Bericht ganz deutlich: Diese Leistungen sind in der Regel nicht wegen, sondern trotz der Bundesregierungen der letzten 30 Jahre erbracht worden.

(Mark Hauptmann [CDU/CSU]: Das ist eine Frechheit, so was zu behaupten!)

Herzlichen Dank.