Föderale Fairness statt Einheit im Schneckentempo

In sechs Wochen begehen wir den 30. Jahrestag des Mauerfalls. Selbstverständlich können die Ostdeutschen stolz sein: Viel wurde geleistet. Niemand leugnet das. Der Bericht zum Stand der Deutschen Einheit zeigt aber auch: Das meiste wurde nicht wegen, sondern trotz der Bundesregierungen der vergangenen drei Jahrzehnte erreicht. Der Lobhudelei des Ostbeauftragten der Bundesregierung Christian Hirte muss widersprochen werden, denn die Einheit kommt auf vielen Gebieten nur im Schneckentempo voran.

Die ostdeutsche Wirtschaftskraft je Einwohner liegt inzwischen bei 75 Prozent des Westniveaus. Das hört sich erstmal passabel an. Aber vergleichen wir diesen Wert mit den 1990-er Jahren. 1995 lag diese Quote bei 65 Prozent. Die Wirtschaftskraft Ost wurde in einem knappen Vierteljahrhundert in Relation zum Westniveau um 10 Prozent gesteigert. Wird in diesem Tempo weitergemacht, würden wir die wirtschaftliche Einheit im Jahr 2081 vollenden. Beinahe 100 Jahre nach der staatlichen Einheit.
In meinem Heimatland Mecklenburg-Vorpommern liegt der Median-Bruttolohn bei 2496 Euro (Median heißt, die eine Hälfte verdient mehr, die andere weniger), in den westdeutschen Ländern liegt er bei 3434 Euro. Das sind fast 1000 Euro weniger und nur 73 Prozent des Westniveaus. Das ist das Gegenteil von gleichwertigen Lebensverhältnissen.

Beim Armutsrisiko geht es sogar in die komplett falsche Richtung. Mehr Menschen sind arm oder von Armut bedroht als vor einem Vierteljahrhundert – in Ost wie West. Gerade weil die Arbeitslosigkeit zurückgegangen ist, sind diese Zahlen eine Bankrotterklärung.

Hinzu kommt: Kein Rektor einer Universität kommt aus dem Osten, kein Bundesrichter. Ob in der Wirtschaft, an den Hochschulen oder in der Justiz: Ostdeutsche sind extrem unterrepräsentiert. Das ist ein unhaltbarer Zustand 30 Jahre nach dem Mauerfall. Dabei wird vor allem der Bund seiner Verantwortung nicht gerecht. Föderale Prinzipien und Strukturen gelten nicht, wenn es um den Osten geht.

Wir fordern daher einen Pakt für föderale Fairness.

  1. Wir wollen, dass in den Bundesministerien und Bundesbehörden Personal föderal fair aus allen Bundesländern eingestellt wird.
    Wir haben zwar eine ostdeutsche Bundeskanzlerin, aber in den Bundesbehörden finden sich kaum Ostdeutsche. Von 120 leitenden Beamten in den Bundesministerien sind lediglich drei aus dem Osten. Bei anderen Bundesbehörden sieht es nicht anders aus. Das Grundgesetz (Artikel 36, Absatz 1) sieht etwas anderes vor: eine föderale Regelung. In den obersten Bundesbehörden sollen Menschen aus allen Bundesländern in angemessenem Verhältnis arbeiten. Wir fordern, dass der Bund das Grundgesetz beachtet.
  2. Wir wollen, dass Bundesbehörden und Bundeseinrichtungen föderal fair in allen Bundesländern angesiedelt werden.Das ist aktuell nicht der Fall. Von 217 Bundeseinrichtungen sind nur 23 im Osten ansässig. Obwohl der Bundestag bereits 1992 beschlossen hat, dass neue Bundeseinrichtungen vorrangig in den ostdeutschen Bundesländern anzusiedeln seien.
  3. Wir wollen, dass die Bundesregierung komplett nach Berlin umzieht.
    Bonn als zweiten Regierungssitz beizubehalten, ist nicht mehr zu rechtfertigen. Nach fast 30 Jahren muss die Deutsche Einheit auch in diesem Punkt vollzogen werden. Tausende teilungsbedingte und daher unnötige Dienstreisen zwischen Bonn und Berlin und jährliche Ausgaben in Millionenhöhe könnten entfallen.
  4. Wir wollen, dass der Bund Unternehmen, an denen er beteiligt ist, föderal fair in allen Bundesländern ansiedelt. Der Bund ist an 109 Unternehmen beteiligt– darunter noch immer mit Anteilen an der Deutschen Telekom AG und Deutschen Post AG. Nur fünf von 109 haben ihren Sitz in Ostdeutschland. Es gibt kein DAX-Unternehmen im Osten. Der Bund sollte eine aktive Beteiligungspolitik betreiben, die einem föderalen System gerecht wird.

Wir wollen keine Extra-Wurst für den Osten, sondern föderale Fairness bei Personal, Behörden, Forschungseinrichtungen und Bundesunternehmen. Das wäre wirtschaftlich und strukturpolitisch sinnvoll und von hoher Symbolkraft. Es geht um Augenhöhe, die endlich notwendig ist 30 Jahre nach dem Mauerfall.