Große Worte, kleine Brötchen

Als Angela Merkel 2005 ihre erste Regierungserklärung als Bundeskanzlerin abgab, formulierte sie folgende Maxime: „Fragen wir nicht zuerst, was nicht geht oder was schon immer so war. Fragen wir zuerst, was geht, und suchen wir nach dem, was noch nie so gemacht wurde.“ Ich frage mich, warum die Kanzlerin diese Worte zwar kürzlich vor Harvard-Absolventen in den USA wiederholte, sie im aktuellen Regierungshandeln jedoch kaum beherzigt.

Zur Halbzeit der Wahlperiode, ist selbst aus dem wenig ambitionierten „Weiter so!“ Stillstand geworden. Im Land vertiefen sich die Gräben zwischen Wohlhabenden und Bedürftigen, prosperierenden und abgehängten Regionen. Eine verunsicherte Bevölkerung sucht vergebens Halt und Orientierung. Längst betrifft das auch die sogenannte Mittelschicht. Zu den Verlieren einer verfehlten Politik zählen nicht zuletzt viele Kommunen überall im Land. In der Koalition der Verlierer der Bundestagswahl 2017 beschäftigen sich CDU und SPD vor allem mit sich selbst, die CSU aalt sich in Selbstgefälligkeit und die Kanzlerin überzeugt vor allem beim Personalpoker zwecks Machterhalt für die Union.

Der Koalitionsvertrag sparte nicht an großen, richtigen Worten: „Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land.“ Gemessen daran sind die Ergebnisse bescheiden, oft besorgniserregend. Mitunter wurde die Regierung wortbrüchig. Bei Rüstungsexporten beispielsweise ist der Koalitionsvertrag Schall und Rauch. Entgegen der zwischen Union und SPD getroffenen Vereinbarung erlaubte die Bundesregierung Waffenlieferungen auch an Länder wie Ägypten oder die Vereinigten Arabischen Emirate, die am Jemen-Krieg beteiligt sind. „Im Verteidigungsbereich erleben wir einen Superzyklus“, jubelt der Vorstandsvorsitzende des Rüstungskonzerns Rheinmetall. Die Klimapolitik, bei der nationale wie internationale Ziele verfehlt werden, ist ein einziger Verschiebebahnhof. Jahrzehntelange Versäumnisse, Kungelei und Zockerei in der Verkehrspolitik kommen die Steuerzahler teuer zu stehen. Bei der Handy-Netzabdeckung wird Deutschland weiterhin beispielsweise von Peru oder Albanien übertroffen. Von der Angleichung der Lebensverhältnisse bis zum vollständigen Regierungsumzug nach Berlin wird vieles seit Jahren halbherzig oder gar nicht angepackt.

Im Kabinett sind sie nun zu dritt aus dem beschaulichen Saarland: Kramp-Karrenbauer, Altmaier und Maas. Ein Symbol dafür, dass dort künftig noch kleinere Brötchen gebacken werden? Ein Blick in den Haushaltsentwurf für 2020 offenbart: Gezielte Zukunftsinvestitionen, wirksame Armutsbekämpfung und bessere Bildung wird es mit dieser Koalition nicht mehr geben. Fatal ist, dass die Bundesregierung selbst nach dem Lübcke-Mord ernsthaft weiter bei Projekten gegen Rechts sparen will. Das werden wir selbstverständlich versuchen zu verändern.

Gewiss, in dieser Regierung gibt es einen Sozialminister, dessen Überlegungen zur sogenannten Grundrente zumindest in die richtige Richtung gehen und einen agilen Gesundheitsminister, der im Monatstakt Gesetzentwürfe vorlegt. Aber am Kabinettstisch sitzt auch ein Innenminister, dem die Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger mitnichten heilig ist, und der wieder und wieder Angriffe auf Freiheits- und Bürgerrechte fährt. Wir haben einen Finanzminister, der eine höhere Besteuerung von Großkonzernen blockiert und angesichts von Steuer-Mindereinnahmen verkündet, die fetten Jahre (wessen fetten Jahre eigentlich?) seien vorbei. Und Deutschland leistet sich eine Bildungsministerin, die eine moderne Kommunikationsinfrastruktur nicht „an jeder Milchkanne“ für erforderlich hält und Studierende, die kaum bezahlbaren Wohnraum finden, mit dem Hinweis vor den Kopf stößt, man müsse zum Studieren nicht in die teuersten Städte gehen. Ex-Verteidigungsministerin von der Leyen, die immerhin einen Untersuchungsausschuss an den Hacken hat, setzte erst die Gorch Fock (und anderes) auf Grund und segelt jetzt nach Europa davon. Ihre Nachfolgerin stolperte mit einem gehörigen Defizit an Glaubwürdigkeit und einem Kotau vor dem Weißen Haus und der Rüstungsindustrie ins Amt. Ich mag gar nicht daran denken, dass Annegret Kramp-Karrenbauer vielleicht künftig für Deutschland an der Seite von Donald Trump und Boris Johnson in der fragwürdigen G7-Runde sitzt.

Für die SPD, die zu Jahresbeginn ankündigte, Hartz IV hinter sich zu lassen, wird es Zeit, den Worten Taten folgen zu lassen. Die Sozialdemokratie verweist gern darauf, welche Erfolge der Regierungskoalition sie für sich verbuchen kann. Sie sollte meines Erachtens darüber nachdenken, welche „Erfolge“ sie für die Bürgerinnen und Bürger erreichte. Die skandalös niedrige Mindestlohnerhöhung? Das „Starke Familien Gesetz“ genannte bürokratische Monster? Die jämmerlichen Kompromisse zum Paragraphen 219a oder zur Verschärfung der Migrations- und Asylgesetze? Das wirkungslose Entgelttransparenzgesetz?

Ob die gegenwärtige Bundesregierung jetzt tatsächlich Halbzeit hat, ist ungewiss. Ihre Halbwertzeit, das wird auch der Physikerin Merkel klar sein, ist längst überschritten.