Wir feiern 70 Jahre Grundgesetz

70 Jahre Grundgesetz sind zu Recht ein Anlass, über das Grundgesetz, über Deutschland, über seine Geschichte, aber auch über seine Gegenwart nachzudenken. Entscheidend ist: Das Grundgesetz ist die Antwort und eine praktische Lehre aus dem Zivilisationsbruch der Nationalsozialisten. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ als der zentrale Satz ist eine Antwort auf ein Regime, für das „Menschenwürde“ ein Fremdwort war.

Navid Kermani hat in seiner beeindruckenden Rede zu 65 Jahre Grundgesetz darauf hingewiesen, dass der Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ paradox sei; denn wenn sie unantastbar sei, müsste es ja nicht festgeschrieben werden. Er hat Recht. Der industrielle Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden und der Vernichtungskrieg im Osten waren grausame Höhepunkte dieses Gewaltregimes und haben gezeigt, dass ein Staat den Verstoß gegen die Menschenwürde zum Prinzip erheben kann.
Es muss daran erinnert werden, dass die Deutschen nicht in der Lage waren, die sogenannte Machtergreifung der Nazis zu verhindern. Sie waren auch nicht in der Lage, deren Herrschaft aus eigener Kraft abzuschütteln. Befreiung war nur von außen möglich – durch den Sieg der Streitkräfte der Anti-Hitler-Koalition. Menschen überall in der Welt zahlten für unsere Befreiung einen hohen Preis. Es war eine Befreiung von einer Politik der Unmenschlichkeit. Dass Politik auf die systematische Zerstörung der Menschlichkeit hinausläuft, das dürfen wir nie wieder zulassen.

Gerade deswegen ist es so wichtig, die Tragweite des Artikels 1 zu verstehen. Er ist ein Versprechen, das jeden Tag aufs Neue eingelöst werden muss. Dieser Satz muss als Auftrag an die konkrete Gesellschaftsgestaltung verstanden werden. Der Geist des Grundgesetzes ist ein radikaler Bruch mit dem Faschismus. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben genau gewusst, dass der Kampf gegen den Faschismus umfassend sein muss, dass ein Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Würde des Menschen nicht reicht, dass dieses Bekenntnis im Staat verankert sein muss.
Der Geist des Grundgesetzes verpflichtet uns deswegen, auch eine soziale Politik zu machen, einen solidarischen Staat und eine solidarische Gesellschaft zu gestalten. Das Grundgesetz ist ein Bekenntnis zur sozialen Demokratie. Im Artikel 20 des Grundgesetzes heißt es nicht umsonst: Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Die Bundesrepublik wurde mit diesem Artikel als sozialer Rechtsstaat definiert. Artikel 79 Absatz 3 stellt diese Definition unter den Schutz der Ewigkeitsklausel. Das zeigt, wie zentral die soziale Demokratie im Grundgesetz ist. Deswegen findet sich neben der Eigentumsgarantie auch deren Einschränkung durch Gemeinwohl bzw. die sogenannte Sozialpflichtigkeit in Artikel 14.
Die Mütter und Väter des Grundgesetzes wussten ganz genau, dass eine allzu große soziale Spaltung die Gesellschaft gefährdet. Es ist doch kein Zufall, wenn im Koalitionsvertrag steht: „Ein neuer Zusammenhalt für unser Land“. Das sagt vor allen Dingen eins, dass es offensichtlich Defizite im sozialen Zusammenhalt gibt.

Tatsächlich ist die Gesellschaft sozial gespalten wie seit Jahrzehnten nicht. Die Republik und auch das Grundgesetz werden aktuell auf eine Bewährungsprobe gestellt. Mittlerweile ist die Unantastbarkeit der Menschenwürde leider infrage gestellt. Es gibt sogar Zehntausende Menschen, die das Grundgesetz als Verfassung infrage stellen. Wenn in Plauen Rechtsextreme marschieren, dann ist das ein Wiedergänger jenes Faschismus, den wir alle längst erledigt glaubten.
Aber es ist nicht nur die Reinkarnation des Nationalsozialismus, die das Grundgesetz auf die Probe stellt. Eine Gefahr ist auch die neoliberale Umgestaltung unserer Gesellschaft und des Staates. Der Neoliberalismus will eine andere Demokratie als das Grundgesetz. Ich weise hier auf den Begriff der „marktkonformen Demokratie“(Angela Merkel) hin. Die „marktkonforme Demokratie“ unterwirft die Demokratie und die Menschenrechte der Verwertungslogik – und das kann letztlich die Demokratie zerstören.

In einer sozialen Demokratie geht es stattdessen darum, den Kapitalismus dort, wo er Demokratie zerstört, einzuhegen. Dieses Einhegungsprojekt ist aber schon lange kein Thema mehr in der Politik in Deutschland, obwohl das Grundgesetz, die Verfassung, darauf angelegt ist. Das ist im Übrigen auch der Sinn von Artikel 15, den manche für sozialistisch oder ein Relikt halten. Aber: Es geht darum, zu vergesellschaften, wenn andere Steuerungsinstrumente versagen. Das ist der Sinn, der dort festgehalten wird. Das ist auch der Unterschied zur Enteignung. Denn Enteignung findet im Kapitalismus ständig statt. Ich finde es, ehrlich gesagt, grotesk, dass es teilweise hysterische Reaktionen gibt, wenn man Glaubenssätze des Neoliberalismus hinterfragt oder über den Sinn von Vergesellschaftung debattiert. Das zeigt, wie beschränkt viele mittlerweile sind, über Wirtschaft und Gesellschaft abseits vom Turbokapitalismus nachzudenken.

Da ist das Grundgesetz offener, kreativer. Statt die Lehren, die im Grundgesetz verankert sind, ernst zu nehmen, wird bei jedem Anlass schnell die Änderung des Grundgesetzes gefordert. Ob jede der über 60 Änderungen des Grundgesetzes sinnvoll war, ist mit Sicherheit zweifelhaft. Ich denke da an das Asylrecht, aber auch an Neufassung der Schuldenbremse. Auch deshalb entsetzen mich die leichtfertigen Forderungen, den Artikel 15 zu streichen. Ich finde das anmaßend. Insbesondere die ersten 20 Artikel sind doch nicht einfach mal so abzuschaffen.
Man muss sich klar machen, dass die Autoren des Grundgesetzes die Zerstörung und das Leid durch die Nazis unmittelbar vor Augen hatten. Das führt zur begründeten Vermutung, dass wir es nicht besser wissen als die Damen und Herren auf Herrenchiemsee. Sie jedenfalls wussten, dass das Gemeinwohl im Zweifel über Kapitalinteressen stehen muss.

Das Grundgesetz und die Verpflichtungen daraus sind natürlich nur so stark und lebendig wie die Verfassungspraxis. Verfassung und Praxis sind immer auch ein Ausdruck der Zeit. Das kann man sich an der Geschichte der Bundesrepublik alt, aber auch bezogen auf die Zeit nach 1989 anschauen. Ja, es gab damals den Entwurf des Runden Tisches. Ja, der Artikel 146 gibt immer noch die Möglichkeit, eine seriöse Debatte darüber zu führen. Es waren im Übrigen vor allen Dingen die Bürgerbewegten, die sich hier sehr engagiert haben.

Das Grundgesetz ist immer nur so gut, wie seine Institutionen, die den Geist leben. Das gilt vor allem für die gewählten Abgeordneten der Parlamente. Sie tragen die Verantwortung dafür, dass diese demokratische Verfassung nicht an schlechter Praxis scheitert. Nur dann werden wir dem Geist der Väter und der wenigen Mütter des Grundgesetzes gerecht.