2019 – Schlüsseljahr

2019 ist nicht nur ein Jahr voller Erinnerungen und Gedenken – 100 Jahre Ermordung Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, 30 Jahre Mauerfall, 20 Jahre Kosovokrieg sind nur einige runde Gedenkjahre, die wesentlicher Teil unserer Geschichte sind. Es ist auch politisch ein Schlüsseljahr für die Linke: Europa- und Kommunalwahlen, Wahlen in Bremen und später noch die Wahlen in drei Ost-Ländern. In Thüringen kämpfen wir um die Wiederwahl des Ministerpräsidenten Bodo Ramelow. Die ehemals Große Koalition steht außerdem permanent vor ihrem frühzeitigen Ende. Selten war eine Koalition so fragil. Annegret Kramp-Karrenbauer positioniert sich rechts der Kanzlerin und die SPD sucht ihre Zukunft scheinbar links. Eine Chance für neue Mitte-links Bündnisse?

Auch innerparteilich ist das Jahr ein wichtiges – ebenso für die Fraktion, die meine Co-Vorsitzende Sahra Wagenknecht nach diesem Jahr, auf Grund gesundheitlicher Gründe, nicht mehr als Vorsitzende leiten wird. Ich möchte nicht versäumen, Sahra auch an dieser Stelle für vier Jahre gemeinsamer Arbeit an der Spitze der Fraktion zu danken. Es waren keine einfachen Jahre. Aber es waren gute Jahre, weil wir vertrauensvoll und zuverlässig, vor allem erfolgreich miteinander arbeiten konnten, trotz zum Teil unterschiedlicher Auffassungen zu einigen Dingen. Es stimmt mich besorgt, wie aufreibend letztlich doch das politische Geschäft ist – auch im Miteinander. Deshalb möchte ich noch einmal mit Nachdruck für eine politische Kultur werben, in der wir Linken uns respektieren, über Differenzen in der Sache hinweg.

Genau hier liegt ein tiefer sitzendes Problem. Seit Jahrzehnten wird in der (gesellschaftlichen) Linken häufig ein Streit ums Rechthaben geführt. Das mag bei konkurrierenden Parteien natürlich wirken, aber innerhalb der Parteien wirkt es mindestens schräg. Die Geschichte der Linken ist eine Geschichte des Kampfs um eine bessere Gesellschaft. Natürlich, auch da kann man sich irren, wie die Geschichte beweist. Aber es bleibt eine ehrenwerte Sache. Vielleicht kommt daher das Selbstbewusstsein, immer im Recht zu sein. Deswegen lässt sich diese Geschichte auch als eine der Verirrung, der Hybris und – leider – auch Verbrechen schreiben: das beginnt bei der Zustimmung zu den Kriegskrediten und der Burgfriedenspolitik. Es setzt sich fort bei der Billigung der Gewaltexzesse während der Niederschlagung der Revolution 1919 in Deutschland, denen auch Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zum Opfer fielen. Aber auch die noch junge kommunistische Partei verstrickte sich bald in den Fängen des Stalinismus, seinen Fehlorientierungen, dann auch der Mitwirkung bei den Partei-„Säuberungen“ im sowjetischen Exil. Von der Gründung der DDR 1949 bis zu ihrem Ende 1989 gelang es der SED nicht, sich von wesentlichen Strukturen der stalinistischen Herrschaftsform zu emanzipieren. Das Resultat war eine Niederlage letztlich epochalen Ausmaßes.

Ich will nicht den Anspruch, Richtiges zu wollen, schlecht reden; aber ein Bewusstsein der prinzipiellen Fehlbarkeit unserer Überzeugungen scheint mir wichtig und vernünftig. Ich sage diese Selbstverständlichkeiten, weil das leider keine wirklichen Selbstverständlichkeiten sind. Was uns manchmal fehlt, ist das Leben von Solidarität in unseren Konflikten, ein historisches Bewusstsein für die Notwendigkeit unserer Partei und die Bedeutung unserer Fraktionen in den Parlamenten, auch der im Bundestag.

Die Bundestagsfraktion ist ein zentraler Baustein einer geeinten deutschen Linken, um die uns viele europäische Genossinnen und Genossen wirklich beneiden. Wenn wir nach Italien gucken, dann ist das eine einzige Tragödie. Viele eher bedeutungslose kleine Parteien – die Rechten wissen das zu nutzen. Die Einheit unserer Partei ist also kein Witz oder Spiel, sie ist ein historischer Auftrag. Das heißt auch den pluralen Charakter erhalten, was oftmals leichter gesagt, als getan ist. Denn es bedeutet Kompromisse und sich gegenseitig aushalten zu müssen. Pluralismus heißt, sich auch mal auf die Nerven zu gehen. Ich bin nicht in die Politik gegangen, weil es einfach ist. Marx hat gesagt, Widersprüche sind die Triebkräfte der Entwicklung. Wir dürfen aber nicht vergessen, was uns alles eint. Uns eint die Überzeugung um eine bessere Zukunft, um eine sozialistische Zukunft. Wir sind aber nicht naiv und wissen, welche Kämpfe das erfordert. Deswegen brauchen wir Radikalität im Denken und in der Haltung und weniger in der Phrase.

Wir Linken arbeiten uns allerdings derzeit zu oft an Konflikten ab, die mit dem schreckhaften Erwachen aus den neoliberalen Träumereien zu tun haben. Nach dem Brexit-Votum, dem Trump-Desaster und rechtsextremen Parteien in allen Parlamenten fragen sich seit ein paar Jahre linksliberale Geister, wie „das“ passieren konnte. Gemeint ist, dass traditionelle Arbeitermilieus nicht mehr mehrheitlich links wählen. Die Antworten darauf sind zahlreich – und selbstkritisch müssen wir auch verstehen, dass kulturelle Kämpfe in den letzten Jahren manchmal einfacher zu gewinnen waren, als ökonomische. Das heißt aber nicht, dass wir das eine tun sollten und das andere lassen. Vielmehr müssen wir verstehen, dass es nicht nur um ökonomische oder rechtliche Fortschritte geht, sondern auch um Anerkennung. Als Ost-Deutscher weiß ich, wie verheerend es ist, wenn Menschen systematisch die Anerkennung als gleichberechtigter Teil der Gesellschaft verwehrt wird. Demütigungen hinterlassen tiefe Wunden. Wir müssen uns immer vor Augen halten: Es geht nicht nur darum, dass vom kapitalistischen Mainstream abweichende Lebensweise nicht mehr bestraft werden. Es geht darum, dass sie anerkannt werden. Das gleiche gilt auch für uns als Partei – ohne gegenseitige Anerkennung unterschiedlicher Biographien und Traditionen können wir keinen gemeinsamen Kampf führen.

Ich glaube aber dennoch, dass wir uns zentral Gedanken machen müssen, wenn erhebliche Teile derer, für die wir uns stets einsetzen, uns nicht mehr vertrauen oder sogar mit der radikalen Rechten liebäugeln. Wenn wir die Sprache nicht mehr sprechen, die die Menschen, für deren Rechte wir kämpfen, sprechen, dann haben wir ein Problem.

Natürlich hat das auch etwas mit der Tatsache zu tun, dass wir eine Größe in der politischen Landschaft sind, dass wir feste Strukturen haben und „etabliert“ sind in vielen Parlamenten. Es hat damit zu tun, dass viele linke Ideen sich – zum Glück! – immer wieder durchsetzen und gesellschaftliche Realität werden, ohne dass sich das große Ganze grundlegend verändert. Deswegen ist es verständlich, dass Menschen enttäuscht sind, wenn wir Hartz-4 mit ihrer Stimme immer noch nicht abgeschafft haben, weil wir eben im Bund nicht regieren. Diese Frustration, ein direktes Resultat der Mühlen politischer Realität, auszuhalten ist eine wesentliche Herausforderung für uns Linke. Denn kaum etwas ist frustrierender als immer wieder mahnend am Rand zu stehen und im Nachhinein Recht zu bekommen, wenn es an einigen Stellen schon zu spät ist. Ich erinnere nur an unsere Warnungen in Bezug auf den Euro oder die Finanzmärkte, unsere warnenden Worte zur Bankenkrise und zum Sozialabbau. Die Liste ist lang. Aber nur, wenn wir diese Frustration mit einer gewissen Gelassenheit auszuhalten vermögen, können wir den aufreibenden Kampf einer sozialistischen Partei erfolgreich bewältigen. In der Vergangenheit haben wir den Frust zu oft aneinander ausgelassen.

Ich bin im Übrigen fest davon überzeugt, dass der Zeitgeist sich gerade verändert und sich für uns daraus Chancen ergeben – weg von den neoliberalen Mantren, von dem blinden Glauben an den Markt und der stetigen Denunziation sozialistischer Ideen. Viele junge Menschen erleben die Grenzen des Kapitalismus und wollen sich damit nicht abfinden. Die Fridays For Future-Proteste sind von einer Skepsis gegenüber dem Markt geprägt. Endlich!

Die Union hat sich in Suchbewegungen nach rechts begeben. Das könnte der Sozialdemokratie den Raum geben, den sie benötigt, um auf dem Feld der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik polarisierende Wirkung zu erzielen. Dazu muss sie aber überzeugende Konzepte vorlegen und machtpolitische Aussagen treffen. Mit anderen Worten, sie muss den politischen Wechsel wollen, mit uns Linken. Wer hier eine Bedrohung für uns sieht, unterschätzt meiner Meinung nach unsere Möglichkeiten. Wir müssen von der SPD etwas fordern, was einer neuen Sozialstaatsfunktion mindestens weit entgegenkommt. Wir dürfen sie aus ihrer Verantwortung nicht entlassen. Ich nenne das „Sozialstaatsdialog“. Den müssen wir einfordern. Das geht aber nur mit einer LINKEN, die sich gemeinsam einstimmt und sich nicht selbst zerlegt.