Gerechtigkeit: Was ist das eigentlich?

Vor zehn Jahren führten die Vereinten Nationen den Welttag der sozialen Gerechtigkeit ein. Angesichts dessen, dass spätestens seit dem 19. Jahrhundert die „soziale Frage“ gestellt und ihre Lösung immer wieder eingefordert wurde, wirkt das ziemlich spät. Tatsächlich haben die Vereinten Nationen wie auch ihre Organisationen viel zu diesem Thema beigetragen. Besonders prominent ist der UN-Sozialpakt, der eine Reihe sozialer Menschenrechte benannte, normierte und international verbindlich machte.

Jenseits dessen ist es sinnvoll, sich gelegentlich Gedanken über die Bedeutung von Begriffen zu machen, die wir oft im Munde führen. Sonst besteht die Gefahr, dass sie zur bloßen Phrase werden, und so dann inhaltlich entleert niemanden mehr interessieren. Ein Indiz dafür, dass das dem Begriff der Gerechtigkeit auch so ergehen kann, ist, dass alle wichtigen politischen Strömungen sich dieses Begriffs bedienen, um ihre Politik auch als Gerechtigkeitspolitik auszuweisen. Auch Neoliberale behaupten nicht von sich selbst, dass sie Ungerechtigkeit wollen. Sie behaupten nur, dass es am besten für alle ist, wenn man den Markt selbst als Verteilungsinstanz wirken lässt.

Nur, was passiert, wenn es wachsenden Teilen unserer Bevölkerung einfach nicht gut geht, wenn sie in ihrem Leben Ungerechtigkeitserfahrungen machen, zugleich aber über den Fernseher und die Zeitung mitgeteilt bekommen, dass die Regierungspolitik doch nur Gerechtes will? Ein Resultat, das sich so einstellen kann, ist Gleichgültigkeit oder Verachtung gegenüber der Politik: „Die da oben reden doch nur!“ Das schwächt aber auch jede Opposition in ihrer Überzeugungskraft.

Nun werde ich hier nicht das vielleicht Naheliegende tun, also zu einem großen Trotzdem ansetzen. Vielmehr möchte ich nun genau das tun, was dem unreflektierten, inflationären Gebrauch von Gerechtigkeit logischerweise entgegensteht: über diesen Begriff nachdenken.

Eine erste Bestimmung von Gerechtigkeit lautet: Eine Verteilungsordnung ist dann gerecht, wenn sie jedem (und jeder) das ihm (ihr) Zustehende zuteilt. So einleuchtend diese Bestimmung auf den ersten Blick auch erscheinen mag, so wenig ist sie konkret handhabbar. Denn woher wissen wir denn, wem eigentlich was zusteht? Wie soll das entschieden werden und durch wen mittels welcher Methoden und Verfahren?

Wenn jemand ein bestimmtes Medikament erhalten soll, dann auf der Grundlage einer Diagnose und der begründeten Vermutung, dass dieses Medikament hinsichtlich seiner Wirkung der Diagnose adäquat ist. Damit könnte man einen Anspruch auf die Vergabe dieses Medikaments begründen. Damit ist aber nur die Bedürfnisseite angesprochen; und wie wir wissen, muss die Verwirklichung von Bedürfnissen gesellschaftlich organisiert werden. Der Rekurs auf Bedürfnisse allein reicht also nicht aus. Er ist aber wichtig als ein Kriterium. Denn welche Eigenschaften wir dem Begriff der Gerechtigkeit noch alles zuschreiben möchten: Eine Ordnung, die nicht einmal wichtige Bedürfnisse abzudecken vermag, kann nicht gerecht sein, sie trägt vielmehr inhumane Züge. Daher könnte man von „Bedürfnisgerechtigkeit“ reden. Zu klären wäre dann zwar immer noch, was Bedürfnisse sind und worin sie sich von irgendwelchen, vielleicht spontanen, Präferenzen unterscheiden, aber wir haben hier einen möglichen Orientierungspunkt im Dickicht der Begriffe.

Zumindest in einem gewissen Spannungsverhältnis dazu steht der Begriff der Leistungsgerechtigkeit. Wenn es um wichtige Bedürfnisse geht, sollen sie auch befriedigt werden, gleichgültig, welche „Leistung“ ein Mensch für das Gemeinwesen erbracht hat. Hier geht es wirklich um Menschlichkeit – übrigens wunderbar nachlesbar in Marx‘ Kritik des Gothaer Programms. Hingegen geht es bei der Leistungsgerechtigkeit darum, dass es für einen Menschen hinsichtlich seines Einkommens schon einen Unterschied machen sollte, ob er viel oder wenig arbeitet, ob er gute Ideen hat oder eher dürftige, ob er sich verausgabt oder eher schont. Aber, und das wird gelegentlich übersehen, ist dieser Begriff aufs engste mit dem Lohnarbeitsverhältnis verbunden. Das anschaulichste Modell ist der Stücklohn unter identischen Produktionsbedingungen. Für mehr gibt es mehr! Dadurch, dass Systeme sozialer Sicherung auch auf den Arbeitsverhältnissen aufbauen, sollte eine Anforderung an Sozialleistungen darin bestehen, dass ihr Umfang in einem nachvollziehbaren Verhältnis zu Höhe und Dauer der Einzahlung besteht. Hier wird also das Leistungs(gerechtigkeits)prinzip fortgesetzt. Eine der Hauptkritiken an der Agenda 2010 besteht darin, dieses Leistungs(gerechtigkeits)prinzip massiv geschwächt zu haben. Die konkrete Anbindung an das Arbeitsverhältnis zeigt auch, dass dieses Prinzip an den kapitalistischen Produktionsprozess gekoppelt ist. Mit der kapitalistischen Verteilungsordnung einher gibt es aber noch eine andere Verteilungsebene, die mit Leistungsgerechtigkeit nichts zu tun hat: Die Aneignung des Mehrwerts durch die Kapitalistenklasse und die Verteilung desselben innerhalb dieser Klasse. Hier wird das Leistungsprinzip negiert.

Aber nicht nur Erwerbsarbeit ist ein Beitrag zum Gemeinwesen. Die Pflege von Angehörigen, die Erziehung von Kindern, die gemeinnützige Tätigkeit in Vereinen, die freiwillige Tätigkeit auf verschiedensten Gesellschaftssektoren stellen Beiträge zum Gemeinwesen dar, die nicht unmittelbar als Leistung gemessen werden, da sie keine Erwerbsarbeit sind. Ein Staat kann dieses Engagement ausbeuten, indem er sich aus Verantwortlichkeiten herausnimmt und darauf setzt, dass freiwillige Bürgerarbeit schon einspringen wird. Er kann bürgerschaftliches Engagement aber auch als Ergänzung dort begreifen, wo er selbst nicht agieren kann: So wäre es widersinnig, wenn der Staat selbst politische Bildung okkupiert. Soll das die Polizei machen oder die Verwaltung? Der demokratische Staat ist zu seiner Anerkennung auf Ressourcen angewiesen, deren Reproduktion er nicht erzwingen kann. Deshalb ist es nicht unvernünftig, dass es Formen gibt, in denen eine derartige Arbeit über den warmen Händedruck hinaus honoriert wird. Diese Form der Gerechtigkeit, die sich so ausdrückt, ist weder Bedürfnisgerechtigkeit noch Leistungsgerechtigkeit. Sie ist eben schwer zu messen. Was jedoch nicht geht, ist eine diskriminierende Zurechnung. Eine Frau aus dem Osten hat dasselbe gemacht wie eine Frau aus dem Westen, wenn sie ihre Kinder aufzog. Warum das unterschiedliche Rentenpunkte nach sich zieht, ist nicht nachvollziehbar.

Wir haben hier drei Formen der Gerechtigkeit, der „Zuteilung“ betrachtet und als Formen des Gerechten angesehen. Anders sieht das mit der Aneignung des Mehrwerts, der in der Sache unbezahlte Mehrarbeit ist. Hier kann nur eigentumsrechtlich eine Legitimationskette erzeugt werden, die vom Eigentum an den Produktionsmitteln und dem Ankauf der Arbeitskraft zur Aneignung des Produkts reicht. Marx hat das mit der ihm eigenen Ironie mit der Weingärung verglichen. Der Kapitalist kauft Produktionsmittel und Arbeitskraft, die dann ihm gehören. Die lässt er aufeinander einwirken, so dass das Produkt ihm ebenso gehört wie der Wein in seinem Weinkeller. Schon der Wechsel im Modus der Legitimation zeigt an, dass die Rede von Gerechtigkeit bei der Aneignung des Mehrwerts nichts zu suchen hat. Deshalb sehen Sozialistinnen und Sozialisten im Privateigentum an Produktionsmitteln auch keine Heilige Kuh. Wenn es nötig ist, muss das Eigentumsrecht vor anderen Interessen, zum Beispiel einem menschenwürdigen Leben für alle, zurücktreten.

Dennoch wird die Aneignung des Mehrwerts häufig als Gerechtigkeitsproblem beschrieben. Das hängt damit zusammen, dass der gleiche Tausch zwischen Arbeitskraft gegen Arbeitslohn, was eine wertäquivalente Operation ist, ein Akt zwischen zwar juristisch gleichen Personen ist, diese Gleichheit aber die reale Ungleichheit zwischen Eigentümern an Produktionsmitteln und jenen, deren einziges Eigentum das Eigentum an ihrer Arbeitskraft ist, überdeckt. Man ist versucht, eine Art verdeckten Betrug zu vermuten. Dennoch ist die bessere Beschreibung mit dem Begriff der Unfreiheit möglich. Der doppelt freie Lohnarbeiter ist frei genug, um als Person agieren zu können, er hat die Freiheit von Produktionsmitteln, ist also dem Zwang ausgesetzt, seine Arbeitskraft zu verkaufen. Nur ist dies ein „stummer“ Zwang. Da ist niemand mit Befehlsgewalt. Die kommt dann aber im Produktionsprozess selbst. Hier wird nach Anweisung der Eigentümer gearbeitet. Es ist eine Kooperation, Kapitalismus bedeutet eben auch, dass im großen Maßstab kooperiert wird, aber es bleibt eine erzwungene Kooperation.

Die utopische Idee des Kommunismus besteht gerade darin, dass eine Gesellschaft auch ihre ökonomischen Angelegenheiten unter ihre eigene Kontrolle bringt. Die Frage, wie wir leben wollen, schließt dann die Fragen ein, was wir zu welchem Zweck in welcher Weise produzieren wollen. Aber deutlich ist ebenso: Es geht dabei nicht primär um „Gerechtigkeit“, sondern um Freiheit. Deshalb sprechen Marx und Engels von der „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“.