Weniger ist mehr

Am Obersee in Berlin-Hohenschönhausen steht ein Baudenkmal von internationalem Rang, an dem vermutlich nicht wenige Menschen achtlos vorbeigehen. Das „Mies van der Rohe Haus“ besticht durch seine Einfachheit und Funktionalität. Das Wohnhaus, ein flacher Ziegelbau mit großen Fenstern, zeigt keinerlei Schnickschnack und zielt allein auf die Bedürfnisse seiner Bewohner. „Weniger ist mehr“ lautete ein Leitspruch seines Schöpfers, des berühmten Bauhaus-Architekten Ludwig Mies van der Rohe.

An das Motto sollten auch wir Politikerinnen und Politiker gelegentlich denken. Beispielsweise bevor wir Gesetze wie das zur „Änderung des Rindfleischetikettierungsgesetzes und des Legehennenbetriebsregistergesetzes“ beschließen. Bis 2007 galt in Deutschland eine „Grundstücksverkehrsgenehmigungszuständigkeitsübertragungsverordnung“, nicht zu verwechseln mit der „Telekommunikationsüberwachungsverordnung“. Den schlichten Satz: „Der Kapitalismus zersetzt sein meritokratisches Narrativ und unterhöhlt damit seine Legitimationsgrundlagen,“ fand ich nicht im Sachbuch, sondern in einer Tageszeitung und fragte mich, welchen Test ich da wohl bestehen soll. Mitunter mag einen schon der Gedanke beschleichen, die Sprache der Politik, gelegentlich auch die der Wissenschaft, diene mehr der Verschleierung, denn der Aufklärung. Das muss nicht so plump geschehen wie bei jenem Politiker, der vor Jahren eine faustdicke Lüge damit erklärte, er habe sich „eventuell nicht immer im Zentrum der Wahrheit bewegt“. Als die Bundeskanzlerin in der vergangenen Wahlperiode ihrerseits grünes Licht für die Ehe für alle gab, tat sie das mit den Worten: „Und deshalb möchte ich gerne die Diskussion mehr in die Situation führen, dass es eher in Richtung einer Gewissensentscheidung ist, als dass ich jetzt hier per Mehrheitsbeschluss irgendwas durchpauke.“

Auch wir LINKE verstecken uns nicht. Im Entwurf des Europawahlprogramms wendet sich die Partei  gegen „Importe von Liquefied Natural Gas (LNG) in die EU“, will das „LIFE-Programm auf ein Prozent des EU-Haushalts aufstocken“ und die Entwicklung des „UN Treaty“-Abkommens unterstützen. „Nach den Protesten gegen TTIP, CETA und TiSA wurde 2018 das Sonderklagerecht für Konzerne aus dem neuen NAFTA-Vertrag zwischen Mexiko, Kanada und der USA gestrichen“, lese ich in dem Papier und bin sicher, dass Erika und Max Mustermann das begeistert unterstützen. Abkürzungen sind überhaupt sehr beliebt. Ich weiß allerdings nicht, wer wirklich etwas mit  der DSGVO, also der Datenschutz-Grundverordnung, anfangen kann. Mit R2G wird wohl mancher ehemalige DDR-Bürger eher ein langlebiges Küchen-Rührgerät, denn eine Koalition von SPD, LINKEN und GRÜNEN verbinden.

Ich hoffe, liebe Leserin, lieber Leser, Sie sind mir bis hierher gefolgt und freuen sich mit mir über die Formulierung eines Autors, der über Vernunft und Humanismus aufklären (!) möchte: „Am Anfang des Buches stand eine nichtmystische, nicht can-doistische, nicht panglossische Erklärung, warum Fortschritt möglich ist“. Das lasse ich jetzt mal so stehen. Ich bin jedenfalls davon überzeugt, dass der Fortschritt auch erfordert, dass die Menschen schlicht und einfach verstehen, worum es geht. Dem Volk auf’s Maul schauen, hat Martin Luther verlangt. Das hat nichts mit nach dem Munde reden zu tun, aber viel mit Klarheit in der Sache und in der Sprache. Politikerinnen und Politiker müssen nicht nachweisen, sattelfest in jeder Fachsprache zu sein, und sollten auch den Ehrgeiz zügeln, sich mit Fremdwörterketten zu schmücken oder Spannung durch größtmögliche Verschlüsselung ihrer Botschaften aufzubauen. Wir sollten nicht für jeden Missstand einen Superlativ bemühen und uns auch in der Auseinandersetzung mit denen von Rechtsaußen nicht zu sprachlichen Entgleisungen hinreißen lassen. „Verwechseln Sie bitte nicht das Einfache mit dem Simplen“, appellierte der bereits erwähnte Mies van der Rohe. Das ist wohl auch mit „Mut zum Populären“ zu übersetzen.

Einer der es beispielhaft versteht, politische Forderungen und Ziele mit einer verständlichen Sprache zu transportieren, ist Gregor Gysi. Er findet auch in vertrackten Situationen einen Ausweg. Eines seiner legendären Rededuelle mit Bundestags-Präsident Norbert Lammert beendete Gysi mit den Worten: „Sagten Sie im Ernst, Herr Präsident, ich sei bisher nicht zu verstehen gewesen? Dann muss ich ja alles wiederholen.“