Gedenken und Überheblichkeit

Am 27. Januar 1944, vor 75 Jahren, gelang es der Roten Armee, den Blockadering um Leningrad endgültig zu sprengen. Etwa ein Jahr zuvor endete die Schlacht um Stalingrad mit der Zerschlagung der 6. Armee, deren Reste in sowjetische Kriegsgefangenschaft gingen. Wiederum ein Jahr später, am 27. Januar 1945, befreiten sowjetische Truppen das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, das seither zum Symbol für den bürokratisch organisierten und industriell betriebenen Völkermord an den Jüdinnen und Juden, für die Shoa, geworden ist.

Ich erinnere an diese Daten, weil sie eindringlich zeigen, was die nationalsozialistische Herrschaft bedeutet hat: Zerschlagung der Demokratie, gnadenlose Verfolgung politischer Gegner und vor allem Völkermord sowie Raub- und Vernichtungskrieg. Sie zeigen, dass es die Völker der Sowjetunion waren, die die Hauptlast dieses Krieges, der erst mit der Zerschlagung des Faschismus endete, tragen mussten. Die Blockade Leningrads war ein monströses Kriegsverbrechen, das genozidale Züge trug. Die Stadt sollte nicht eingenommen werden, sie sollte ausgehungert werden. 1,1 Millionen Menschen starben in Leningrad allein durch Hunger und Kälte. Insgesamt verlor die Sowjetunion 27 Millionen Menschen während dieses Krieges.

Bücher zur Geschichte sind wichtig, aber sie reichen nicht. Man muss, um die Dimensionen des Geschehens wirklich zu erfassen, möglichst einige dieser Orte besucht haben. Ich fände es richtig, dass jede bzw. jeder Deutsche nach Möglichkeit einmal in seinem Leben in Yad Vashem gewesen sein sollte, die Gedenkstätte des Konzentrationslagers Auschwitz und den Mamajewhügel in Wolgograd besucht haben sollte. Von Abgeordneten des Deutschen Bundestages jedenfalls kann man das erwarten, da gibt es keine finanziellen Hindernisse. Von Bundestagsabgeordneten sollte man das auch deshalb erwarten dürfen, weil sie bei der Gestaltung der Beziehungen zu Ländern im postsowjetischen Raum und zum Staat Israel mitreden, ja mitbestimmen.

Da liegt auch das Problem: eben noch findet eine Gedenkstunde statt, und ein paar Stunden später findet man sich im üblichen Muster wieder, wo man offenbar glaubt, durch Überheblichkeit, durch den Glauben, auf der Seite des Wahren und Guten zu stehen, Russland belehren zu können. Dabei werde ich nichts relativieren. Ein Völkerrechtsbruch wie bei der Krim ist auch dann ein Völkerrechtsbruch, wenn er durch Russland begangen wird. Da muss ich nicht aufgeklärt werden! Nur haben wir nicht das Recht, gerade gegenüber den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, die Lehrmeister zu spielen. In diesen Ländern gibt es noch genaue Erinnerungen daran, was passiert, wenn Deutsche sich berufen fühlen, die Welt ordnen zu müssen. Und es gibt noch eine andere Erinnerung: 1999 beteiligte sich Deutschland erstmals wieder nach dem 2. Weltkrieg an einem Angriffskrieg. Ich spreche hier vom „Kosovokrieg“. Dieser führte, auch unter Beteiligung Deutschlands, zu einer Abtrennung der serbischen Provinz Kosovo vom serbischen Staatsgebiet, ohne dass Serbien da zugestimmt hätte. Das war ein völkerrechtswidriger Akt, an dem sich Deutschland da beteiligte. Der Zusammenhang zwischen Kosovo und Krim liegt auf der Hand und von einigen gern geleugnet.

Zum Glück gibt es aber auch eine weitere Erfahrung. Die ist verknüpft mit Namen wie Willy Brandt, Egon Bahr und zuletzt auch Matthias Platzeck. Diese Politiker gingen davon aus, dass in einer Welt, in der eine militärische Konfrontation mit oder gar zwischen Atommächten zur Katastrophe führt. Die Folgerung daraus ist nicht Unterwerfung, sondern eine Politik der Entspannung. Die setzt wechselseitige Anerkennung voraus. Man akzeptiert, dass es unter Umständen unterschiedliche Sichtweisen und Interessen gibt, man weiß, dass Konflikte zwischen diesen Sichtweisen und Interessen mit einer gewissen Notwendigkeit unvermeidlich sind und glaubt dennoch, dass diese Konflikte generell unter Gewaltverzicht einer Bearbeitung und vernünftigen Handhabung zugänglich sind. Das ist der „Wandel durch Annäherung“. Das ist auch heute möglich, denn es hat schon einmal funktioniert zu einer Zeit, da es sich um Konflikte zwischen gänzlich unterschiedlichen Gesellschaftssystemen handelte.

Heute, wo wir keinen Systemkonflikt mehr haben, soll das nicht gehen? Das glaubt nur, wer das nicht will. Je mehr Begegnung es zwischen Schülerinnen und Schülern, Studentinnen und Studenten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Künstlerinnen und Künstlern gibt, je dauerhafter das durch entsprechende Programme organisiert werden kann, desto weniger fremd werden wir uns werden. Ich jedenfalls war und bin gern unterwegs in Russland und begebe mich auch gern in Diskussionen, die oftmals kontrovers sind, aber zweifelhaft nützlich, für alle Beteiligten.