Großbritannien vor dem Brexit

Am 29. März 2017 leitete die britische Premierministerin Theresa May durch ein Schreiben an den Europäischen Rat den Austritt aus der Europäischen Union rechtlich ein. Vertraglich ist eine Frist von zwei Jahren vorgesehen, in der auf dem Verhandlungsweg Fragen und Probleme geklärt werden müssen, die sich in der Folge des Austritts stellen. Ende März dieses Jahres wird es dann soweit sein, dass das Vereinigte Königreich kein Mitglied der EU mehr sein wird. All dem ging ein Referendum voraus, bei dem mit knapper Mehrheit für einen Austritt aus der EU votiert wurde. Der damalige Premier David Cameron, selbst für den Verbleib in der EU eintretend, organisierte das Referendum, weil innerhalb der Tories der Machtkampf zwischen den EU-Gegnern und EU-Befürwortern zu eskalieren drohte. Cameron erhoffte sich offenbar eine Stärkung seiner Position in der Partei und riskierte dabei auch den möglichen Austritt seines Landes aus der EU. Ich würde sagen: Zu hoch gepokert! Nach der Niederlage im Brexit-Referendum legte er seine Ämter nieder. Neben den EU-skeptischen Tories agitierte die rechte Partei UKIP unter der Führung von Nigel Farage ebenfalls für den EU-Austritt.

Bemerkenswert war die Reaktion der Brexit-Befürworter auf den Sieg im Referendum. Sowohl Nigel Farage als auch einer der Anführer der EU-Gegner innerhalb der Konservativen, Boris Johnson, traten zurück. Farage erklärte lapidar, dass er nun sein politisches Ziel erreicht habe, und Boris Johnson fühlte sich durch Kritik angegriffen. Kurzzeitig galt er als der starke Mann innerhalb der Tories, aber genau das wollte er dann doch nicht: die Verantwortung für die Folgen des Brexit übernehmen. Von allen Bewerbern für den Parteivorsitz der Tories blieb plötzlich nur noch Theresa May übrig, die eigentlich eine Befürworterin des Verbleibs in der EU war, sich aber durch das Referendum politisch gebunden fühlte. Was man damals bereits erahnen konnte: einfach wird es nicht für das Vereinigte Königreich. Die Nationalisten sind zwar in der Lage, Scherbenhaufen zu produzieren, aber wegräumen müssen es dann die anderen.

Viel besser sah die Situation bei der Labourparty auch nicht aus. Das alte, politisch durch Tony Blair geprägte, Parteiestablishment war bei einer Urwahl zum Labourvorsitz empfindlich geschlagen worden. Mit Jeremy Corbyn wurde ein Vertreter des linken Parteiflügels gewählt. Ihm wurde nun angelastet, dass die Mehrheit der Briten die EU verlassen wolle. Also auch innerhalb der Labourparty wurde die EU-Frage zur inneren Auseinandersetzung instrumentalisiert. Zutreffend ist dabei sicher, dass Corbyn nie als „begeisterter“ Europäer aufgefallen ist. Im Gegensatz zu vielen seiner Gegner stimmte sein Wahlkreis jedoch mit sehr deutlicher Mehrheit für den Verbleib in der EU. Zudem ist es immer etwas merkwürdig, jemandem, der gerade erst ein Amt errungen hat, Vorwürfe für einen Zeitraum zu machen, in dem andere die Labour-Politik dominierten. Jedoch gewann Corbyn erneut die Wahlen zum Parteivorsitz.

Die neue Tory-Vorsitzende und Premierministerin sah sich vor die Aufgabe gestellt, mit einer gespaltenen Partei nicht nur zu regieren, sondern auch die bevorstehenden Austrittsverhandlungen zu führen. Dabei muss man sich immer vor Augen führen: Es gibt eigentlich keine Austrittsverhandlungen, sondern Verhandlungen zur Gestaltung der Beziehungen des austretenden Staates zur EU. Der Austritt ist sicher, nur die danach geltenden Konditionen nicht. Um nun ihre Macht zu festigen, hielt May Neuwahlen für eine gute Idee. Damals wurden die Erfolgsaussichten der Labourparty als gering eingeschätzt. Die Auseinandersetzungen um Corbyn hätten die Partei geschwächt, so eine Annahme, die damals kursierte. Das stellte sich jedoch als falsch heraus. Labour ging deutlich gestärkt aus den Neuwahlen hervor und May konnte sich nur noch dadurch an der Macht halten, dass sie eine Koalition mit der DUP einging, einer Partei der protestantischen Iren, die äußerst antikatholisch eingestellt ist. Alles, was irgendwie als eine Annäherung Nordirlands an die Republik Irland angesehen werden könnte, wird durch sie aufs Entschiedenste bekämpft. Damit hat sich May einen Mühlstein an den Hals gehängt. Denn Nordirland ist eine wichtige Baustelle. Es gehört zu den Verdiensten von Tony Blair, den Nordirland-Konflikt entschärft zu haben. Mit dem sogenannten Karfreitagsabkommen zog Frieden in eine Region ein, in der zeitweilig offener Bürgerkrieg herrschte. Zwei entscheidende Punkte des Karfreitagsabkommens sind nun möglicherweise gefährdet. Der erste Punkt betrifft die enge Zusammenarbeit der Behörden Nordirlands und der Republik Irlands. Der zweite Punkt betrifft den Verzicht der Republik Irlands auf die Forderung nach einer Wiedervereinigung und zugleich die Festschreibung einer möglichen Wiedervereinigung, falls eine Volksabstimmung das so wolle. Hier hat sich die EU als nützlich erwiesen. Zusammen mit einer offenen Grenze bedeutete das, dass Irland faktisch wiedervereinigt wurde, ohne den völkerrechtlichen Akt der Verschiebung von Staatsgrenzen vollziehen zu müssen. Die Möglichkeit einer Abstimmung über eine mögliche Wiedervereinigung verlor an Relevanz angesichts der praktischen Einheit und engen Kooperation der Behörden. Nur wie sieht das jetzt aus, wenn sich mitten durch die Insel eine EU-Außengrenze zieht? Natürlich sind beide Staaten an das Karfreitagsabkommen gebunden. Aber seine Umsetzung wird nun deutlich erschwert werden.

Auch die Schotten dürften den Ausgang des Referendums nicht begeistert aufgenommen haben. Die Schottische Nationalpartei (SNP) strebte die Trennung von Großbritannien aus zwei Gründen an: Erstens, sie war der Überzeugung, dass der Reichtum des Landes nicht nur entlang der Klassen ungerecht verteilt war, sie nahm auch eine ungerechte Verteilungsstruktur zwischen den britischen Regionen wahr. Schottland ging z.B. leer aus bei der Ausbeutung des Erdöls vor der schottischen Küste. Zudem sind die Schotten gegenüber der EU aufgeschlossen eingestellt. Die Vorbehalte der Tories sahen sie als Gefährdung ihrer Zukunft an. Um die Abspaltung Schottlands zu verhindern, führte Cameron „Bleibeverhandlungen“. Was immer er zugesichert haben mag, jetzt regiert er nicht mehr und mit dem Vereinigten Königreich verlässt auch Schottland die EU. Wie man es dreht und wendet, der Brexit wird für die Befriedung der nationalen Spannungen nicht hilfreich sein, um es einmal ganz milde auszudrücken.

Theresa May ging maximalistisch in die Verhandlungen. Am besten sollte alles so bleiben, wie es wäre, wenn Großbritannien noch Mitglied der EU wäre, nur ohne die Arbeitnehmerfreizügigkeit für EU-Ausländer. Ein wichtiger Bestandteil der Propaganda der Brexit-Befürworter bestand in einer nur schwer erträglichen Hetze gegen ausländische Arbeitnehmer. Natürlich lehnte die EU derartige Anliegen als „Rosinenpickerei“ ab. Das ist aus Gründen der Organisationsrationalität nachvollziehbar. Wenn es für ein austretendes Land keinerlei Nachteil bedeutet, ob es Mitglied der EU ist oder nicht, dann bedeutet das, dass es Nachahmer geben könnte. Dann kann man die EU aber auch auflösen. Dennoch bin ich der Meinung, dass man es hier mit der Härte gegenüber Großbritannien nicht übertreiben sollte. In vielen EU-Ländern leben Briten. In Deutschland ca. 100.000 Menschen. Die sind hierhergekommen, um zu arbeiten oder ein Unternehmen zu gründen. Niemand ging davon aus, dass sie ihre Unionsstaatsbürgerschaft plötzlich verlieren würden. Auch seitens des deutschen Staates gab es keinerlei Signale gegenüber EU-Ausländern nach dem Motto: Überlegt lieber zehnmal, bevor ihr hierherkommt, vielleicht tritt euer Land aus der EU aus! Nein, praktisch war dieser Fall nicht vorgesehen. Das muss man jetzt berücksichtigen. Das muss die EU nicht machen, das könnten auch die Einzelstaaten, wie z.B. Deutschland tun. Es sollte jedenfalls eine Bleibeperspektive geben. Auch andere Fragen stellen sich. Briten, die im Ausland gearbeitet haben, haben Rentenansprüche im jeweiligen Sozialsystem erworben. Können diese Ansprüche noch „überführt“ werden und wie? Das gilt ebenso für EU-Ausländer, die in Großbritannien gearbeitet haben.

Aufgrund der Mehrheitsverhältnisse in Großbritannien ist bis jetzt kein Verhandlungsergebnis zustande gekommen. Es läuft also auf einen ungeordneten Brexit hinaus. Es wird noch diskutiert, ob ein kleiner Aufschub gewährt werden könnte, aber der ist auch nur dann sinnvoll, wenn ein vernünftiges Ergebnis absehbar wäre. Das ist aktuell nicht der Fall. Die eigenartige Dramatik der Brexit-Verhandlungen hat auch ein anderes Resultat produziert. Die rechtspopulistischen Parteien in Europa sind zurückhaltender geworden, was Austrittsambitionen betrifft. Sehr deutlich lässt sich das in Polen, Ungarn und Italien zeigen. Hier orientiert die Rechte auf eine autoritäre Transformation ihrer Länder, um dann, wenn das auch in anderen europäischen Ländern gelingt, die EU autoritärer zu machen. Dieser Aspekt der Brexit-Debatte kommt zu kurz, auf den sollten wir auch unser Augenmerk richten.