Ein Ritual in vier Akten

Am Sonntag werde ich, wie alljährlich im Januar, in die Gedenkstätte der Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde gehen. Mit Sozialisten und Kommunisten, Sozialdemokraten und Trotzkisten, Gewerkschaftern, Friedens- und Umweltaktivisten, mit Menschen mit und ohne Parteibuch ehre ich Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht sowie andere Menschen unterschiedlicher Couleur, die couragiert gegen Krieg und Faschismus gekämpft haben. Eine nostalgische Veranstaltung? Vielleicht auch. Aber erstens hat unseren höchsten Respekt verdient, wer sich gegen Rassismus und Gewalt stellt, zweitens tut die Linke gut daran, ein paar Traditionen sorgsam zu pflegen. Für mich ist es, wenn man so will, ein Ritual in vier Akten:

Erstens: Im Mittelpunkt steht selbstverständlich das stille Gedenken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Einhundert Jahre nach deren Ermordung bleibt der Kampf gegen Militarismus und Krieg, für Demokratie und soziale Gerechtigkeit eine aktuelle Herausforderung. Tief betroffen habe ich Ende des Jahres die Nachricht aufgenommen, dass die herausragende Luxemburg- und Liebknecht-Biografin Prof. Dr. Annelies Laschitza verstorben ist. Sie schrieb über die beiden: „Mit ihren Ansichten, durch ihr gesellschaftspolitisches Engagement und ihre integren Charaktere regen sie nach wie vor dazu an, die Suche nach Alternativen zum kapitalistischen Wirtschafts-, Gesellschafts- und Weltherrschaftssystem nicht aufzugeben.“

Zweitens: Beim Rundgang in Friedrichsfelde werde ich auch am Gedenkstein für die Opfer des Stalinismus innehalten und Blumen niederlegen. Keine Ideologie und kein politisches Ziel rechtfertigen Terror und Gewalt. Gegen niemanden. Ich denke daran, dass das Referat „Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System“ faktisch eine Geburtsurkunde meiner Partei, der Partei des Demokratischen Sozialismus, ist. Mit ausgearbeitet und dann gehalten hat es mein unvergessener Freund und Genosse Michael Schumann. Das war vor fast dreißig Jahren, auf dem außerordentlichen Parteitag der SED/PDS im Dezember 1989.

Drittens: Der – auch obligatorische – Rundgang über den teils bizarren Polit-Markt hinterlässt bei mir stets zwiespältige Gefühle: Die Achtung vor dem Engagement vieler Menschen und das Erschrecken vor viel Misstrauen untereinander. Die Freude über eine bunte Linke und das Staunen über ein ausgeprägtes Sektenwesen. Die Anerkennung von großer Belesenheit und das Unverständnis gegenüber ausgeprägter Rechthaberei. Aber vielleicht hilft letztlich Karl Liebknecht beim Verständnis, nannte er doch Politik „die Kunst des Unmöglichen“. Ich nehme es auch als ein Plädoyer für Gelassenheit.

Viertens: Ein Aufenthalt am Glühwein-Stand beschließt den Vormittag in Friedrichsfelde. Beim Wiedersehen mit Genossinnen und Genossen, Sympathisantinnen und Sympathisanten tauschen wir uns über das vergangene und das kommende Jahr aus. Nicht wenige, die auf dem flachen Land mit wenigen Gefährten oder sogar allein DIE LINKE repräsentieren, haben mir erzählt, dass das Erlebnis der Gemeinsamkeit mit Hunderten Gleichgesinnten ihnen nicht minder wichtig ist, als die politischen Informationen und Erkenntnisse, die solche Treffen mit sich bringen. Viele werden auch dieses Mal weiterziehen zum „Politischen Jahresauftakt“ im ehemaligen Kino „Kosmos“ in der Karl-Marx-Allee. Vielleicht sehen wir uns ja.