Hauptsache Wessi

Der CDU-Parteitag letzte Woche war in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Erstmals seit dem Zweikampf zwischen Helmut Kohl und Rainer Barzel 1973 gab es einen Kandidaten und eine Kandidatin, die beide gute Chancen auf den Parteivorsitz hatten. Mit Jens Spahn gab es einen weiteren Bewerber, dessen Chancen von Beginn eher gering eingeschätzt wurden. Was von einigen Beobachtern und vor allem Mitgliedern der Union als „Sternstunde der Demokratie“ gepriesen wurde, war ein interessanter innerparteilicher Wahlkampf, der ohne große Verletzungen gelaufen ist, wovon auch wir lernen können. Am Ende hat sich Annegret Kramp-Karrenbauer, kurz: AKK, durchgesetzt. Glückwunsch. Das Amt nach 18 Jahren Merkel zu übernehmen, ist sicherlich keine kleine Verantwortung.
Dass Kramp-Karrenbauer im Vergleich zu Merz das „kleinere Übel“ sei, ist aber dennoch überzogen. Selbst sozial konservativ eingestellt, vertritt sie wirtschaftspolitisch vielleicht rhetorisch sozialere Positionen als Friedrich Merz – aber einen sozialen Aufbruch können wir kaum erwarten. Auch wurden durch den Sieg Kramp-Karrenbauers die Anhänger Merz‘ nicht befriedet – es steht also zu befürchten, dass die Union weiter in chaotischem Zustand bleibt und die Regierungskrisen des letzten Jahres fortgesetzt werden. Horst Seehofer hat zwar gesagt, dass er die Wahl von Kramp-Karrenbauer begrüßt. Aber das heißt nicht viel.

Der eigentliche Gewinner ist am Ende vielleicht sogar Jens Spahn. Spahn rang Friedrich Merz genug Stimmen ab, um den Sieg von Kramp-Karrenbauer zu ermöglichen. Im Gegensatz zu Friedrich Merz hat er aber noch eine Zukunft in der CDU vor sich.

Wer eindeutig verloren hat, ist der Osten. Bei den Spitzenämtern (Vorsitzende, Stellvertreter, Generalsekretär) der CDU ist kein Ossi mehr dabei. Nicht, dass Merkel sich besonders für die Belange des Ostens eingesetzt hätte – aber immerhin die Repräsentation dieses Teil der deutschen Geschichte und Realität hat sie verkörpert. Kurz vor einem wichtigen Wahljahr im Osten (Thüringen, Brandenburg, Sachsen und diverse Kommunalwahlen) die Führungsriege komplett aus Wessis zusammenzustellen, sagt viel über das Verhältnis der Union zu den ostdeutschen Ländern. Ein West-Rutsch, den wir als LINKE als Verantwortung begreifen müssen, Ost-Interessen noch konsequenter zu vertreten. Die Wahlen im kommenden Jahr sind zentral – nicht nur für den Osten, sondern auch für die Zukunft der Bundesrepublik.

Demokratie lebt von der Pluralität. Pluralität der Meinungen, der Interessen, der Ansichten. Aber eben auch von der Pluralität der Perspektive. Denn wer selbst dabei war, den Osten erlebt hat, dort Familie und Heimat hat, wer weiß, was es heißt „Ossi“ zu sein, hat eine andere Perspektive auf die Republik und die Politik. Manchmal auch ein anderes Verständnis für das, was im Osten passiert und warum es passiert.

Wir haben schon oft Ost-Quoten gefordert und wurden manchmal dafür belächelt – aber Fakt ist, dass leider selbst im Osten die Führungspositionen fast ausschließlich von Wessis besetzt werden. Das ist auch eine Frage der Gerechtigkeit und knüpft an andere Ungerechtigkeiten an, welche die Menschen im Osten in den letzten 30 Jahren erleben mussten. Im 30. Jahr nach dem Mauerfall sollte nicht mehr darüber gesprochen werden müssen – die Realität sieht anders aus.

Friedrich Merz, der für die alte Bundesrepublik ins Rennen ging, den konservativen und wirtschaftsliberalen West-Mann symbolisierte, ist vielleicht nicht gewählt worden, aber die Union ist so westdeutsch wie seit 20 Jahren nicht mehr.