Von „Good Bye, Lenin“ zu „Familie Brasch“ und „Gundermann“

Tag der Deutschen Einheit: Die Sonntagsreden sind routiniert gehalten, natürlich kamen viele zu den Auftritten von Nena, The BossHoss oder Samy Deluxe beim Einheitsfest in Berlin, doch der Sekt floss nicht in Strömen. Die Leute freuten sich schlicht über den freien Tag im Frühherbst und ärgerten sich über das schlechte Wetter. Emotionale Ausstrahlung hat dieser Feiertag kaum, wohl auch deshalb, weil mit dem Datum keine Bezüge zu den Ereignissen im Herbst 1989 verbunden sind. Mit dem Tag der Deutschen Einheit wissen die meisten in Ost und West nichts Rechtes anzufangen, mit der Einheit als solcher verbinden sie höchst Unterschiedliches. Viele im Westen meinen, die hinzugekommenen Brüder und Schwestern lägen ihnen mächtig auf der Tasche. Einen Zuwachs an Lebensqualität erlebte der „normale“ Alt-Bundesbürger nicht. Dass die dicken Profite und Gewinne der Einheit von Saale, Mulde und Oder an Rhein, Main und Isar geflossen sind, wurde eher zurückhaltend kommuniziert. Im Osten gewannen die Bürgerinnen und Bürger individuelle Freiheit und verloren soziale Sicherheit. In aufgepeppten Städten stehen schicke Arbeitsagenturen. Für die im Westen änderte sich nach dem 3. Oktober 1990 so gut wie nichts, für die im Osten faktisch alles. So richtet sich auch nach 28 Jahren der Blick in die ostdeutschen Länder, wenn es um Veränderungen geht. Walter Mompers legendäres „Berlin, nun freue dich!“ scheint mehr denn je eine Botschaft gen Osten zu sein. Oder eine Drohung, verflixt noch mal.

Immerhin: Ein Leitgedanke der diesjährigen Festansprachen war es, der Lebensleistung der Ostdeutschen mehr Anerkennung zu zollen. Dagegen ist nichts einzuwenden, im Gegenteil. Dafür hilfreich und letztlich entscheidend wäre aber, endlich die Politik zu ändern. 29 Jahre nach dem Mauerfall kann eben nicht mehr das DDR-Erbe für alle Missstände verantwortlich gemacht werden, muss an die Folgen einer unsäglichen Treuhand-Politik ebenso erinnert werden wie an die verfehlte Vereinigungspolitik mehrerer Bundesregierungen. Weder Kohls „blühende Landschaften“ noch Schröders „Chefsache Ost“ vermochten an der ungleichen Entwicklung etwas zu ändern. Die aus dem Osten stammende Kanzlerin galt lange Zeit als starkes Symbol deutschen Zusammenwachsens. Jedoch hat Merkel einerseits die ostdeutsche Karte selbst nie gespielt, andererseits war für sie die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West kaum klar erkennbarer Schwerpunkt ihres Handelns.

Die Wirtschaftskraft der ostdeutschen Länder liegt jetzt bei 73,2 Prozent. Dreißig Prozent der Beschäftigten im Osten erhalten Niedriglöhne unter zehn Euro, somit ist Altersarmut programmiert. Das durchschnittliche Nettovermögen pro Kopf beträgt in Bayern, Hessen und Baden-Württemberg 112.500 Euro, in Ostdeutschland sind es 24.800 Euro. Von den 100 größten Konzernen Deutschlands hat keiner seinen Sitz im Osten, von 50 sogenannten Oberbehörden des Bundes befinden sich nur drei in Ostdeutschland. Weniger als zwei Prozent der Spitzenpositionen in der Bundesrepublik sind von Ostdeutschen besetzt, „Volk von hier, Eliten von drüben“, meinte selbst die FAZ. Selbstverständlich gibt es auch im Osten boomende und im Westen angehängte Regionen, aber: Ob Wirtschaftsdaten, Steuerkraft, Einkommenssituation oder Vermögensverhältnisse – legt man diese Daten auf eine Landkarte, sind bis heute die Grenzen der DDR zu erkennen. Selbst bei der Bevölkerungsentwicklung ist das so, „selbstverständlich“ zulasten des Ostens. Zukunftsfähigkeit? Fehlanzeige! Alles das zeigt Ursachen für besorgniserregende Entwicklungen besonders in den ostdeutschen Ländern, für einen schwindenden gesellschaftlichen Zusammenhalt und einen Vertrauensverlust gegenüber dem Staat und den „etablierten“ Parteien.

Spätestens an dieser Stelle muss über die gesamte Bundesrepublik gesprochen werden, denn leider gibt es in allen Bundesländern bankrotte Kommunen, marode Schulen, in Armut lebende Kinder, Alleinerziehende mit Billiglöhnen oder darbende Rentner. Fehlentwicklungen im Osten dürfen eben nicht zur Blaupause für bundesweiten Sozial- und Demokratieabbau werden. Soziale Ungleichheit gefährde den gesellschaftlichen Frieden, warnte der Paritätische Gesamtverband. „Im Osten zeigten sich bisher die Probleme, die bald das ganze Land hatte, immer nur früher und deutlicher“, konstatierte der Schriftsteller Ingo Schulze. Da müssen doch die Alarmglocken läuten, wenn im Jahr 2017 die Beschäftigten-Ost im Jahresschnitt zwar 67 Stunden mehr arbeiteten als ihre Kolleginnen und Kollegen im Westen, zugleich aber die Jahres-Bruttolöhne je Arbeitnehmer im Westen mit 35.084 Euro um fast 5.000 Euro höher lagen als in den „neuen“ Ländern mit 30.172 €.

Schulzes Kollegin Jana Hensel stellte dieser Tage fest, die innerdeutschen Ressentiments seien eines der größten Tabus unserer Gesellschaft, keine der beiden Seiten gebe zu, wie groß die Vorurteile wirklich sind. Ein bitteres, wohl aber nicht wirklichkeitsfremdes Resümee nach fast dreißig Jahren deutscher Einheit. Vielleicht kommen aber gerade aus der Kunst auch ermutigende Zeichen. Nachdem einst – gut gemachte! – Klamotten wie „Go Trabi Go“ oder „Good Bye, Lenin“ Zuschauerinnen und Zuschauer in Scharen in die Kinos lockten, sind es jetzt vielschichtige Betrachtungen wie „Familie Brasch“ oder „Gundermann“. Zu Letzterem schrieb nd-Rezensent Gunnar Decker: „Er erklärt DDR-Geschichte auf eine Weise, die zur Selbsterkenntnis von Ost und West gleichermaßen führen könnte – jenseits aller Rechthaberei“. Mein Tipp: Gehen Sie wieder mal ins Kino!