Dietmar Bartsch: Bundesregierung hat Überblick über Behörden und Sicherheitsgesetze verloren

18. Januar 2017 – Ich möchte, dass wir alle immer auch über die Opfer reden, dass das nicht unter Fall Amri subsumiert wird. Und ich möchte auch, dass wir trotz dieses Anschlages unsere Art zu leben nicht kaputt machen lassen, dass wir mehr Menschlichkeit, mehr Freiheit fordern und dabei bleiben und dass wir denen keine Siege gönnen. Es gibt die Aneinanderkettung von Fehlurteilen der Sicherheitsbehörden. Das alles stinkt gen Himmel. Ist das Versagen oder planmäßig, weil er als Quelle genutzt werden sollte? Wir haben als LINKE einen Untersuchungsausschuss gefordert, weil die Antworten bisher nicht ausreichen. Die Voraussetzung für neue Gesetze ist zuallererst Aufklärung. Und bei der Bundesregierung höre ich nur: Verschärfung! Verschärfung! Verschärfung! Wir haben ausreichend Mittel und Gesetze, mit denen dieser Anschlag vielleicht hätte verhindert werden können, wenn sie nur vernünftig und konsequent angewendet werden würden. Sie haben aber den Überblick über Ihre eigenen Behörden und die Sicherheitsgesetze längst verloren.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Durch einen feigen Anschlag sind zwölf Menschen getötet worden, viele wurden verletzt. Ihrer Anteilnahme, Herr Minister, dem Anliegen der Unterstützung für die Opfer, dem Gedenken schließe ich mich ausdrücklich an; das teilen wir. Ich möchte auch für die Fraktion Die Linke den Hinterbliebenen der Opfer und den Verletzten des Anschlages in Berlin mein Mitgefühl aussprechen. Ich möchte, dass wir alle immer auch über die Opfer reden, dass das nicht unter dem Fall Amri subsumiert wird. Und ich möchte auch, dass wir trotz dieses Anschlages unsere Art, zu leben, nicht kaputtmachen lassen, dass wir mehr Menschlichkeit, mehr Freiheit fordern und dabei bleiben und dass wir denen keine Siege gönnen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ja, es ist so, dass man nicht alle Fragen sofort beantworten kann; es hat lange gedauert, bis erste Fragen beantwortet wurden. Ich will Heiko Maas zitieren, der dann gesagt hat:

„Es kann sich nach dem, was da geschehen ist, und nach dem, was man mittlerweile weiß, niemand hinsetzen und sagen, es sind keine Fehler gemacht worden.“

Ich will dem ausdrücklich zustimmen; bloß, ich möchte natürlich auch wissen: Wer hat denn Fehler gemacht, welche Verantwortung gibt es da? Und da gibt es bisher sehr, sehr wenige Antworten. Seit Montag liegt Ihrer beider Bericht – Sie haben darauf hingewiesen – an das PKGr vor, und trotzdem bleiben viele Fragen. Das Fehlen von Antworten auf diese Fragen – das ist das, was die Menschen in unserem Land verunsichert, Herr Minister.

Wie kann es sein, dass Amri diesen feigen Anschlag durchführen konnte, obwohl er seit 2015 wöchentlich Thema deutscher Behörden war? Wie kann es sein, dass trotz Information eines V-Manns, dass ein „gewisser Anis“ Anschlagspläne hegt, hier Informationen nicht zusammengeführt worden sind? Woher hatte Amri seit Februar 2016 die Information, dass die Behörden ihn auf dem Schirm hatten? Wie kann es sein, dass die Observierung Amris ab April 2016 nur noch lückenhaft durchgeführt worden ist? Wieso wurde die Beschattung, obwohl er Thema im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum war, im September eingestellt, und das, meine Damen und Herren, zu einem Zeitpunkt, zu dem der marokkanische Geheimdienst Informationen hierhergegeben hat, dass er eben ein Gefahrenpotenzial hat? Wie kann denn das sein? Wie kann es zu dieser Einschätzung kommen, dass er nicht gefährlich ist? Dafür gibt es keine Erklärung.

Kurz danach wurde er übrigens in der Polizeidatenbank INPOL europaweit als ausländischer Kämpfer aufgeführt. Warum? Wie passt das zusammen, meine Damen und Herren? Warum sind alle Verfahren gegen Amri – alle –, wegen Drogen, Betrugs usw., eingestellt worden, obwohl ihm Dutzende Straftaten vorgeworfen worden sind? Das alles, meine Damen und Herren, stinkt gen Himmel. Das ist keine Schuldzuweisung; aber da ist etwas nicht in Ordnung.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich will einfach wissen: Wer hat was warum irgendwie gedreht? Was ist da in Nordrhein-Westfalen konkret passiert? Von dort sehe ich nur einen Fingerzeig in Richtung Berlin. Es ist eine Aneinanderkettung von Fehlurteilen der Sicherheitsbehörden. Geschah dies im Übrigen planmäßig, weil er vielleicht als Quelle genutzt werden sollte, oder ist es Versagen?

Wir haben, wie Sie wissen, einen Untersuchungsausschuss gefordert. Interessanterweise hat sich Herr Kauder dem angeschlossen, offensichtlich – es ist ja Ihr Fraktionschef – weil es offene Fragen gibt; denn einen Untersuchungsausschuss macht man dann, wenn die Antworten bisher nicht ausreichen.

Meine Damen und Herren, die Voraussetzung für neue Gesetze ist natürlich zuallererst Aufklärung. Und bei Ihnen höre ich nur: Verschärfung, Verschärfung, Verschärfung. – Ich sage ganz klar: Wir haben ausreichend Mittel und Gesetze, mit denen dieser Anschlag vielleicht hätte verhindert werden können, wenn sie nur vernünftig und konsequent angewendet worden wären. Sie aber haben meines Erachtens den Überblick über Ihre eigenen Behörden und über die Sicherheitsgesetze längst verloren.

Über Ihre konkreten Vorschläge können wir alle noch reden, aber bisher wird vor allen Dingen über Verschärfung geredet, und da haben wir eine ganze Menge durch: Zweimal das Asylrecht verschärft; das Gemeinsame Terrorabwehrzentrum ist gegründet worden. Aber die Arbeit scheint dort nicht zu funktionieren.

Videoüberwachung. Wir haben auch nichts gegen vereinzelte Videoüberwachung. Aber: Der Mann ist 14-mal gefilmt worden. Festgehalten und zur Strecke gebracht haben ihn dann zwei Polizisten bei einer normalen Kontrolle. Deswegen sollten wir mehr über die Stärkung der Polizei nachdenken und nicht über flächendeckende Videoüberwachung; ich hoffe, dass auch Sie das nicht wollen.

(Beifall bei der LINKEN)

Bevor Sie zu solchen Forderungen kommen, wollen wir, dass alle Fakten auf dem Tisch liegen, und dabei geht es nicht um Schuldzuweisung, sondern darum, zukünftig entsprechende Fehler zu verhindern. Das ist doch der entscheidende Punkt.

(Beifall bei der LINKEN)

Zwei Dinge zum Abschluss. Wir sollten dafür sorgen, dass die Moscheen, die von Saudi-Arabien finanziert werden – wo Herr Amri offensichtlich vorher war –, zugemacht werden, damit hier nicht in irgendeiner Art und Weise Terrorismus gefördert wird.

Und zum Satz: Wir müssen die Fluchtursachen bekämpfen. – Wir sollten darüber nachdenken, wie wir dem Terrorismus real den Boden entziehen können. Wir sollten keine Interventionskriege führen, keine Waffen exportieren und Ähnliches. Dann ergreifen wir die richtigen Maßnahmen, damit dem Terrorismus der Boden entzogen wird.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)