Dietmar Bartsch: Bundesregierung spart substantiell an Menschenrechten

01.12.2016 – Andrea Nahes meint, dass das Gesetz ein großer Schritt sei und dass es ein paar Baustellen gebe. Es gibt Großbaustellen, bei dem was die Bundesregierung vorliegt. Das Gesetz verdient den Namen Bundesteilhabegesetz nicht, weil die uneingeschränkte und gleiche gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen nicht erreicht wird. Von einer Herauslösung aus dem Fürsorgesystem kann nicht die Rede sein. Die Bundesregierung schränkt die Rechte von Menschen mit Behinderungen ein und zwar aus Kostengründen, weil sie Kosten sparen will. Anstatt die Kritik der Betroffenen wirklich ernst zu nehmen und sie zu nutzen, hat die Bundesregierung sie lange ignoriert. Große Verbesserungen für die jetzige Situation von Betroffenen haben die Regierungsparteien nicht geschaffen. Sie leisten es sich, die Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung zu beschneiden, einfach weil es ihnen zu teuer ist. Und das in einen der reichsten Länder der Erde. Das Gesetz muss überarbeitet werden, um überhaupt der UN-Behindertenrechtskonvention zu entsprechen.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, die Sie sich die Debatte jetzt bei Phoenix live anschauen! Frau Nahles, Sie haben eben dargelegt, welche historischen Etappen es beim Bundesteilhabegesetz gab. In besonderer Weise war natürlich die UN-Behindertenrechtskonvention ein Einschnitt, weil diese die Schaffung eines modernen Teilhaberechts für Menschen mit Behinderungen verlangt. Diese Konvention – daran will ich erinnern – ist seit 2009 geltendes Recht in Deutschland. Die Herstellung von gleichberechtigter Teilhabe am beruflichen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Leben der Gesellschaft ist eine menschenrechtliche Verpflichtung.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie haben sich in Ihrem Koalitionsvertrag das Ziel gesetzt, ein modernes Teilhabegesetz zu schaffen, das aus dem derzeitigen Fürsorgesystem herausführt und den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention entspricht. Wir hatten an Ihrem Koalitionsvertrag extrem viel zu kritisieren, an dieser Stelle aber ausdrücklich nichts; denn das ist ein hoher Anspruch. Das ist sehr vernünftig, und wir als Linke hatten die Hoffnung gehabt, dass Sie diesen Anspruch umsetzen.

Ich will auch klar und deutlich sagen: Ja, es gibt in dem Gesetz Verbesserungen. Es ist gut, dass Sie eine unabhängige Teilhabeberatung und einen Anspruch auf Assistenz für Eltern von Kindern mit Behinderungen einführen. Es ist gut, dass Sie das Entgelt in Werkstätten für behinderte Menschen erhöhen. Ja, es ist gut, dass Sie die Schwerbehindertenvertretungen und die Werkstatträte stärken und Frauenbeauftragte in Werkstätten einführen. Es ist auch gut, dass das Budget für Arbeit endlich festgeschrieben wird. Das alles ist gut.

Aber, Frau Nahles, Sie haben eben davon gesprochen, dass das ein großer Schritt ist und dass es ein paar Baustellen gibt. Es gibt Großbaustellen bei dem, was Sie vorlegen.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Gesetz verdient den Namen Bundesteilhabegesetz nicht, weil die uneingeschränkte und gleiche gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen eben nicht erreicht wird. Von einer Herauslösung aus dem Fürsorgesystem kann nicht die Rede sein, das wäre aber der Kern eines solchen Gesetzes.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Die Unterhaltspflicht von Eltern für volljährige Kinder, die Leistungen aus der Eingliederungshilfe beziehen, soll erhalten bleiben. Sie ändern nichts an der Möglichkeit, Betroffene in Heime zu zwingen, wenn die Kosten für die Unterstützung zu Hause zu hoch sind. Sie schaffen die Möglichkeit, Menschen zu zwingen, ihre Assistenz mit anderen zu teilen, und verhindern damit eine selbstbestimmte gesellschaftliche Teilhabe.

(Dr. Carola Reimann [SPD]: Das stimmt doch nicht! Das ist alles nicht wahr!)

Auch in Zukunft wird das Einkommen und Vermögen von Menschen angerechnet, wenn sie Teilhabeleistungen erhalten, auch wenn hier Verbesserungen erreicht wurden. Auch in Zukunft werden nicht alle Menschen, die Unterstützung brauchen, diese auch bekommen. Auch in Zukunft wird es keine deutliche Verbesserung für Menschen mit Behinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt geben.

Sie schränken die Rechte von Menschen mit Behinderung ein, und zwar aus Kostengründen, weil Sie Kosten sparen wollen. Dieses ganze Gesetz diskutieren Sie immer unter dem Substantiv „Kostendeckelung“. Damit sparen Sie substanziell an Menschenrechten. Das ist der Kern.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Kerstin Griese [SPD]: Es gibt doch mehr Geld! – Katja Mast [SPD]: 800 Millionen Euro mehr pro Jahr!)

– Da helfen auch die 800 Millionen Euro nichts, die Sie jetzt mehr ausgeben wollen, mit denen Sie sich rühmen. Dieses Geld verschwindet zum großen Teil im System.

(Kerstin Griese [SPD]: Das stimmt doch gar nicht! – Zuruf von der SPD: Experte Dietmar Bartsch redet! – Kerstin Tack [SPD]: Ahnungslos!)

Aber anstatt die Kritik der Betroffenen – darüber haben wir eben geredet – wirklich ernst zu nehmen und sie zu nutzen, haben Sie sie doch lange ignoriert. Sie haben ja sogar unterstellt, dass sich die Betroffenen von der Opposition instrumentalisieren lassen.

(Kerstin Tack [SPD]: Wer hat Ihnen denn das erzählt?)

Danke für das Kompliment an Linke und Grüne. Aber trauen Sie uns wirklich zu, massenhaft Leute bei Wind, Wetter und Eiseskälte auf die Straße zu bringen, sie zu veranlassen, sich 22 Stunden anzuketten oder in die Spree zu springen? Das kriegen Grüne und Linke wirklich nicht hin.

Nein, das Problem ist: Die Menschen gehen auf die Straße, weil sie sich betrogen fühlen,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

weil Sie ihre Rechte beschneiden, weil Sie zu wenig zuhören. Das ist der Kern.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Letztlich ist es doch so, dass Sie prioritär aus Kostengründen entscheiden. Das hat eben nichts mit Menschenrechten, nichts mit Selbstbestimmung und letztlich auch nichts mit der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zu tun.

(Dr. Carola Reimann [SPD]: Frechheit!)

Mit den eingebrachten Änderungsanträgen zum Gesetz, die wir heute auch diskutieren, haben die Regierungsfraktionen Union und SPD einige der Härten des Gesetzes abgemildert, und sie haben große Scherben, die Frau Nahles hinterlassen hat, jetzt eingesammelt. Es waren ja Gott sei Dank die Regierungsfraktionen, die hier noch Veränderungen erzielt haben. – Und Sie haben damit letztlich dem enormen Druck der Proteste von Betroffenen nachgegeben. Das ist doch der Kern: Außerparlamentarisches Engagement lohnt sich, das kann man an den Veränderungen sehen.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Das gehört doch zur Demokratie dazu! Das ist doch normal! Für Sie vielleicht nicht!)

Ich kann nur feststellen, dass es selten Gesetze gegeben hat, zu denen es so viele Briefe und Stellungnahmen gab. Es ist eben kein Zufall, dass sowohl ich als Fraktionsvorsitzender als auch meine Kollegin Katrin Göring-Eckardt dazu reden werden. Es ist eben ein Thema, das viele, die hier auch zusehen, bewegt.

(Dr. Martin Rosemann [SPD]: Dann sollten Sie aber etwas davon verstehen, wenn Sie hier reden! – Katja Mast [SPD]: Lassen Sie mal Ihren Ministerpräsidenten hier reden!)

Große Verbesserungen für die jetzige Situation von Betroffenen haben aber auch die Regierungsparteien leider nicht geschaffen. Sie leisten es sich, die Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung zu beschneiden, einfach weil es Ihnen zu teuer ist – und das in einem der reichsten Länder der Erde. Was sollen andere Länder, die sich auch an die Konvention zu halten haben, darüber denken?

Was die Kosten betrifft, möchte ich festhalten, dass das letztlich eine Milchmädchenrechnung ist. Denken Sie doch auch einmal an die Kosten, die entstehen, wenn immer mehr Menschen aufgrund von Isolation und Ausgrenzung depressiv und psychisch krank werden.

Sie haben im Übrigen auch einen Schaden für die Demokratie angerichtet.

(Katja Mast [SPD]: Unverschämtheit!)

Frau Nahles, warum sollte nach dem Gesetz der eine oder andere noch glauben, dass hier Vertrauen da ist? Das haben Sie letztlich gründlich vermasselt.

(Beifall bei der LINKEN – Katja Mast [SPD]: Herr Bartsch, Sie haben überhaupt nicht das Gesetz gelesen!)

Eines ist festzustellen: Sie haben Ihren Koalitionsvertrag nicht realisiert. Das ist der Kern. Der Anspruch des Koalitionsvertrages wird mit diesem Gesetz nicht realisiert. Setzen Sie den um! Es muss Weiteres folgen, und zwar möglichst schnell. Eigentlich müssten Sie das Gesetz überarbeiten, damit es wirklich der UN-Behindertenrechtskonvention entspricht. Eigentlich sollten Sie das in dieser Legislatur machen. Wenn nicht, müssen wir das in der nächsten angehen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)