Bundesregierung begreift Dimension des Brexits nicht

Seit Jahren gilt Brüssel als Prügelknabe für alles Schlechte. Die Politik der Großen Koalition beweist: Europa ist längst zum innenpolitischen Spielball geworden.
Ein erster Schritt für ein europäisches Projekt des Friedens, der Kultur und der sozialen Gerechtigkeit ist, die Verhältnisse in Deutschland zu ändern. Für ein Europa der Menschen.

Rede in der 181. Sitzung des Bundestages anlässlich der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum Ausgang des Referendums über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU mit Bick auf den Europäischen Rat am 28./29. Juni 2016 in Brüssel 

 

 

Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE):

Ich bedanke mich. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, Sie haben mit Ihrer Rede eben noch einmal bewiesen, warum Europa in einer Krise steckt. Wenn ich mir die Wortgruppen, die Sie benutzt haben, vor Augen halte – „gute Lösungen finden“, „jeder Vorschlag ist willkommen“, „mit ganzer Kraft widmen wir uns dem“ -, dann muss ich feststellen: Das kann man eigentlich immer sagen. Vor allen Dingen haben Sie aber eines beschrieben: dass Großbritannien ein Problem hat. Ich finde, die Dimension dieses schwarzen Freitags für Europa ist eine viel, viel größere, als die Bundesregierung offensichtlich begreift.

(Beifall bei der LINKEN)

Vor allen Dingen ist dieser schwarze Freitag ein Ergebnis von Politik.

Brüssel ist seit vielen Jahren der Prügelknabe für so ziemlich alles. Immer, wenn national etwas schiefgeht – im Übrigen auch bei Ihnen -, dann geht das nach Brüssel. Ich glaube, dass das ein großer Fehler ist. Die Menschen haben das Gefühl, es mit abgehobenen Eliten und technokratischen Politikern zu tun zu haben. Das Ergebnis des Referendums ist Ausdruck tiefer Unzufriedenheit, die es in allen Ländern der EU gibt, im Übrigen auch in unserem Land, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der LINKEN)

Das hat mit Sicherheit damit zu tun, dass wir in Europa ein grundsätzliches Demokratiedefizit und ein grundsätzliches Transparenzdefizit haben. Frau Merkel, Sie haben gesagt, die Bürgerinnen und Bürger sollen teilhaben. Was machen Sie denn bei TTIP und bei CETA? Das geht sogar am Parlament vorbei. Die Bürger fühlen sich doch verklapst, wenn man diese beiden Abkommen nimmt.

(Beifall bei der LINKEN – Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Unsinn!)

Die Elitenskepsis, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat auch damit zu tun, wie wir in Europa mit der Finanzkrise umgegangen sind. Ich könnte meine ganze Redezeit mit Äußerungen aus der Union zubringen,

(Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Dann reden Sie richtig gute Sachen!)

aber ich will nur noch einmal den Satz „Der Grieche nervt“ in Erinnerung rufen und jetzt ein ganz aktuelles Beispiel ansprechen.

Betrachten wir einmal die EZB. Ich weiß, dass sie unabhängig ist. Aber ab Juni ist nicht nur der Wahnsinn der Nullzinspolitik Realität, sondern es können auch Unternehmensanleihen gekauft werden, und das wird auch gemacht: bei BASF, bei Daimler, bei Renault. Statt Investitionen in die Zukunft und ins Gemeinwesen zu tätigen, werden Anleihen von Großkonzernen gekauft, die null Zinsen bringen. Das ist Wettbewerbsverzerrung für den Mittelstand, und gleichzeitig ist nie Geld zur Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit und zur Bekämpfung von Armut da. Das ist das Problem. Sie treiben den Sozialabbau voran. Hier muss europäisch gehandelt werden, damit der Frust gegen Europa eben nicht noch größer wird, und hierzu gehört auch die katastrophale Politik der Troika.

(Beifall bei der LINKEN)

Apropos Griechenland: Die ganzen „Exit“-Wortspiele haben mit Griechenland begonnen. Es war doch Ihr Finanzminister, der mit dem Wort „Grexit“ angefangen hat.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Griechen sollten raus. Das ist doch irgendwo hergekommen. Wie war das noch? Herr Schäuble hat gesagt: „Am 28., 24 Uhr, isch over.“ Es war ein Glück im Jahre 2015, dass es so nicht gekommen ist.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Auf eines möchte ich hier mit Deutlichkeit aufmerksam machen: Zur Wahrheit gehört doch, dass Herr Cameron gezündelt hat. Er hat sich mit dem Zündeln seine Wiederwahl gesichert, und Herr Cameron gehört doch zu Ihrer europäischen Parteienfamilie, Frau Merkel.

(Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder (CDU/CSU): Nein! Nein! – Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU): Bleiben Sie bei der Wahrheit! – Gunther Krichbaum (CDU/CSU): Das ist doch grottenfalsch! Von Europa keine Ahnung!)

Der hat gezündelt und sogar noch die Streichhölzer bereitgelegt. Herr Johnson und die halbe Fraktion waren doch dafür. Sie haben sich erst Privilegien von Europa geben lassen, und dann waren sie dagegen. Das ist einfach wahr.

(Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Informieren Sie sich doch erst einmal!)

– Die Tories sind doch Ihre Freunde. Das sind doch nicht unsere Freunde, sondern Ihre. Sie machen doch mit denen Politik.

(Beifall bei der LINKEN – Gunther Krichbaum (CDU/CSU): Das ist doch eine ganz andere Parteienfamilie! Keine Ahnung von Europa, aber sich hier hinstellen!)

UKIP hat das ausgenutzt. Der Brexit ist ein von rechts dominierter Austritt. Ich will Ihnen einmal eines sagen – gerade den Damen und Herren von der CSU -: Es war Herr Seehofer, der in Wildbach Kreuth zu dem, was die Tories machen, gesagt hat: „Das ist CSU pur.“ Das ist Ihre Politik. Sie haben damit Übereinstimmung signalisiert.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Lehre sollte doch sein, dass Sie in der Union endlich einmal merken, dass mit dieser Auseinandersetzung zwischen den beiden Unionsparteien die Rechtspopulisten letztlich befördert werden.

(Beifall bei der LINKEN – Henning Otte (CDU/CSU): Unglaublich! – Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): In Sachsen-Anhalt haben viele von Ihnen sie gewählt!)

Dass nur so wenige abstimmen, hat im Übrigen auch mit dem zu tun, was sich „Kerneuropa“ nennt. Sie haben am Freitag die sechs Außenminister der Gründungsstaaten ausgerechnet nach Deutschland eingeladen und sich gestern um die Achse Berlin-Paris-Rom gekümmert. Frau Bundeskanzlerin, ich sage Ihnen voller Bedauern: Der letzte europäische Kanzler in diesem Land war Helmut Kohl, und ich bedaure das sehr.

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Jetzt wird die Rede langsam besser! – Axel Schäfer (Bochum) (SPD): Sie haben Schröder vergessen!)

Das Agieren mit Kerneuropa ist eben ein großer Fehler. Der Rest scheint Ihnen offensichtlich egal zu sein. Das ist so!

(Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder (CDU/CSU): Ganz schwache Rede!)

Brüssel wäre natürlich der richtige Ort gewesen, um mit allen Mitgliedern zu sprechen. Das wäre vernünftig gewesen.

(Beifall bei der LINKEN)

Das EP ist der richtige Ort, um diese Auseinandersetzung zu führen.

Es ist doch auch ein Skandal, dass der EP-Präsident, Herr Schulz, fordert, dass der Austrittsantrag der Briten bis Dienstag da sein möge. In der Krise und im Umgang mit Großbritannien wird sich zeigen, wie weit die Europäische Union ist. Man darf nicht drohen, sondern man muss gerade auch dann, wenn man sich scheidet, ein ordentliches Verfahren finden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Entscheidende ist: Jetzt ist endlich eine andere Politik gefordert.

(Beifall bei der LINKEN)

Dieser ganze Wahnsinn von Liberalisierung und Privatisierung muss endlich gestoppt werden.

(Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Stabilisierung!)

Es muss eine klare Absage an Nationalismus und Rassismus erfolgen. Hierüber wird es in diesem Hohen Haus doch hoffentlich Konsens geben.

(Beifall bei der LINKEN)

Natürlich hat Europa nur gemeinsam eine Chance; das ist doch völlig klar. China, Japan und Nordamerika: Hinsichtlich der Anzahl der Menschen sind das doch andere Dimensionen. Kleinstaaterei wird hier doch überhaupt keine Lösung sein können. Wenn man ein gemeinsames Europa will, dann darf man nicht zu viel reden, sondern dann muss man sofort handeln.

Jeder Weg in eine neue Richtung beginnt immer mit dem ersten Schritt, und deswegen will ich jetzt auf das Zehnpunkteprogramm zurückkommen, das Sigmar Gabriel, der Vizekanzler, entworfen hat. Da kann ich nur feststellen, dass das der aktuellen Politik diametral gegenübersteht. Ich finde es ja vernünftig. Ich finde es vernünftig, dass wir den ersten Schritt zu einem anderen Europa gehen. Wir brauchen in der zentralen Industriemacht Europas einen Politikwechsel, meine Damen und Herren. Das wäre nötig.

(Beifall bei der LINKEN)

Es geht um das große Projekt des Friedens; da bin ich überhaupt nicht so weit weg von Ihnen. Ja, es ist ein Segen, dass wir in Europa Frieden haben, das darf nicht zerstört werden. Ja, Europa ist ein großes kulturelles Projekt, wofür wir uns gemeinsam weiter engagieren wollen. Ja, es ist ein Europa des Austausches und des Miteinanders. Es ist kein Europa der Abschottung. Das, meine Damen und Herren, muss doch unser Ziel sein: ein Europa der Menschen, um das in einem Satz zu sagen.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Linke wird sich weiter dafür nachhaltig engagieren.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)